Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus! Liebe Sängerinnen und Sänger!
Jedes Jahr am Sonntag Kantate geht eine Aufforderung durch die christliche Welt: „Singet dem Herrn ein neues Lied! Singt dem Herrn immer wieder neu ein Lied!“ Die christliche Kirche ist immer eine singende Kirche gewesen – von den allerersten Anfängen an. Wir müssen nur auf den Abschnitt aus dem Kolosserbrief sehen, den wir eben als Schriftlesung gehört haben: „Singt Psalmen, Lobgesänge und von Gottes Geist eingegebene Lieder; singt sie dankbar und aus tiefstem Herzen zur Ehre Gottes.“
Aber die Tradition des Singens reicht noch viel weiter zurück, denn auch das Judentum ist eine Religion des Singens: Denken wir nur an Mose, Miriam und an David, aber auch an manche der Propheten, die ihre Botschaft in Form von Protestsongs unter die Leute brachten. Und auch das Chorsingen von Psalmen hat seinen Ursprung im Gottesdienst am Jerusalemer Tempel.
Als Kirchenchöre stehen wir also in einer ganz langen und besonderen Tradition, wenn wir immer wieder im Gottesdienst singen: Gott zur Ehre und den Menschen zur Erbauung und uns selber zur Freude. Und so ist es auch kein Wunder, dass bei uns in den letzten Wochen das Halleluja mit dem 2. Vers aus Psalm 89 im Zentrum des Übens gestanden hat, das der Chor heute stellvertretend für die Gemeinde gesungen hat: „Dir will ich singen ewiglich!“
Ich bin davon überzeugt, dass auch die Zukunft der Kirche in entscheidender Weise davon abhängen wird, dass sie eine singende Kirche ist und bleibt: Wenn wir als singende Kirche verstummen, dann haben Tod und Teufel gewonnen. In welcher Form die Kirche weiter singt, das ist allerdings offen. So wie wir heute Musik aus ganz unterschiedlichen Zeiten singen, so wird sich auch die Musik in der Kirche weiter entwickeln: Vieles wird bleiben, manches Neue wird dazu kommen und in den Gemeinden heimisch werden: Gospel und Lobpreismusik sind zwei Beispiele dafür, wie in den letzten Jahren neue musikalische Formen neben Gregorianik, Kirchenlied und Bachkantaten getreten sind. Wer weiß, was noch kommt …
Die Musik – und besonders das Singen in der Kirche wird aber immer eines bleiben: das wichtigste Ausdrucksmittel für das, was die Menschen in ganz besonderer Weise angeht, was sie empfinden, wenn sie auf sich und die Welt und auf Gott sehen. Denn es ist ja so, dass nicht nur Freude, Lob und Dank das Singen bestimmen. Sondern auch Leid und Not, Verunsicherung und Verzweiflung, Sehnsucht nach Geborgenheit finden in der gesungenen Klage und Anklage ihre Ausrucksform. Blättern wir einmal im Gesangbuch, wie groß der Anteil der Lieder ist, der den Menschen Worte an die Hand gibt, damit sie ihre Schwierigkeiten und Nöte, ihre Unsicherheit und ihr Zweifeln in Worte fassen können.
Und indem die Nöte und Probleme so aussprechbar werden, werden sie greifbar, fassbar und können behandelt werden – im wörtlichen Sinn, dass die Menschen sie handhaben können und nicht von den Nöten und Problemen gefangen genommen sind; und dann geradezu im medizinischen Sinn, wenn Menschen wieder heile werden – an der Seele und damit auch oft am Leib.
„Alle eure Sorgen werft auf ihn, auf Gott, denn er sorgt für Euch!“ – Der Wochenspruch aus dem 1. Petrusbrief zeigt uns: Vor allem in Leid und Not haben die Menschen einen Ort, eine Adresse, wohin sie mit ihren Problemen gewiesen sind: Gott ist die Adresse. Und wie der Verfasser des 1. Petrusbriefes zeigt uns auch Jesus in der Bergpredigt für unser menschliches – so oft krankmachendes – Sorgen diese Perspektive auf: im 6. Kapitel des Matthäusevangeliums wendet sich Jesus gegen ein falsch verstandenes Sorgen, das den Menschen gefangen nimmt und unfrei macht.
Jesus sagt: Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?
Und warum sorgt ihr euch um die Kleidung? Schaut die Lilien auf dem Feld an, wie sie wachsen: sie arbeiten nicht, auch spinnen sie nicht. Ich sage euch, dass auch Salomo in aller seiner Herrlichkeit nicht gekleidet gewesen ist wie eine von ihnen. Wenn nun Gott das Gras auf dem Feld so kleidet, das doch heute steht und morgen in den Ofen geworfen wird: sollte er das nicht viel mehr für euch tun, ihr Kleingläubigen? Darum sollt ihr nicht sorgen und sagen: Was werden wir essen? Was werden wir trinken? Womit werden wir uns kleiden? Nach dem allen trachten die Heiden. Denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr all dessen bedürft.
Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit, so wird euch das alles zufallen. Darum sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen. Es ist genug, dass jeder Tag seine eigene Plage hat.
Liebe Festgemeinde!
Es geht Jesus nicht um die Verantwortung, die wir alle in unserem Leben wahrnehmen müssen, es geht Jesus nicht um die Fürsorge, die wir anderen zukommen lassen wollen und sollen. Wir alle haben Verantwortungen in unserem Leben: für die Mitglieder unserer Familien, für die Menschen an unserem Arbeitsplatz, in der Schule und im Verein, auch im Kirchenchor. Und wir alle sorgen auf unterschiedlichste Weise für andere Menschen: bis hin zu den Flüchtlingen, die seit gestern hier bei uns in der Nachbarschaft, im Kraftwerk untergebracht sind.
Jesus wendet sich gegen die Sorge um der Sorge willen, gegen die Angst, die uns beschleicht und dann gefangen nimmt, wenn wir wie das berühmte Kaninchen wie gebannt und gelähmt auf die Schlange sehen und nur noch denken können: „Wie soll das bloß enden!“ – Jesus ruft uns, dass wir auf Gott vertrauen sollen, auf die Liebe und die Fürsorge, die er uns zugesagt und versprochen hat. Nichts soll uns gefangen nehmen – nicht die 5. Stufe der 3. Eventualität, ja noch nicht einmal das, was morgen eventuell sein könnte, und nicht die berühmten ungelegten Eier.
„Suchet zuerst Gottes Reich, so wird euch das andere alles zufallen.“ – „Alle eure Sorgen werft auf ihn, auf Gott, denn er sorgt für Euch!“ Das hört sich so schön einfach an, aber wir erleben so oft, dass das gar nicht so einfach ist. Wir alle wissen doch, wie hartnäckig sich Sorgen in unseren Köpfen einnisten und nicht weichen wollen. Wie geht das denn: Gott die eigenen Sorgen hinwerfen?
Hier – an dieser Stelle – kommt das Singen wieder ins Spiel. Schon das Aussprechen von Sorgen und Nöten ist wichtig. Aber das Singen geht noch einen Schritt weiter; denn Singen ist ja nicht einfach nur Sprechen mit anderen Mitteln: Worte und Silben in unterschiedlichen Höhen und mit unterschiedlichen Längen und in je besonderem Rhythmus und Takt. Singen hat über die einzelnen Worte des Gesprochenen hinaus seine ganz eigene Wirkung.
Martin Luther wird der schöne Satz zugeschrieben: „Wer singt, betet doppelt.“ Mancher mag da vermuten, dass damit die Wirkmächtigkeit oder der Erfolg bei Gott gemeint ist – nach dem Motto: Wenn ich mein Gebet singe, dann kommt es besser bei Gott an, wird ihm besser gefallen und deshalb eher und schneller erhört. Aber stellen wir uns das doch einmal in der Praxis vor: Hätten dann ausgebildete Sängerinnen und Sänger einen Vorteil? Oder was ist, wenn Gott die eine Musikrichtung mehr lieben würde als eine andere: Gäbe er dann seinen Favoriten den Vorzug und die Stilrichtung, die Gott weniger mag, kommt erst ganz zum Schluss? Nein. So ist es ganz bestimmt nicht gemeint – und das war bestimmt auch Martin Luther klar.
Das gesungene Gebet hat nicht mehr Wirkung bei Gott, sondern bei dem Menschen selbst – bei dem, der oder die selber singend betet. Es ist bestimmt schon ein Unterschied, ob jemand beim Beten laut spricht oder nur leise, in Gedanken betet. Singen in Gedanken geht aber nicht. Das muss hörbar sein; und was hörbar ist, erfüllt den ganzen Menschen, der singt. Es geht dabei nicht darum, ob ein Mensch richtig oder falsch singt. Was für unsere europäisch geschulten Ohren richtig ist, hört sich für andere Kulturkreise eher komisch oder gar schräg an, und was wir für schräg und schief halten, mag für andere Menschen ein besonderer Genuss sein.
Wichtig ist: Singen nimmt den Menschen als Ganzen mit – seinen Geist durch die Worte, die wir formulieren; den Körper durch die Schwingungen, in die wir durch das Vibrieren von unserem Kehlkopf versetzt werden, und die Seele durch die Melodien, die Harmonien, die unsere Musik entwickelt. So hilft das Singen, dass das Gebet eine tragende Gewissheit bekommt, die ohne das Singen vielleicht nur schwer zu erreichen wäre. Wer singt, betet doppelt – erfährt auf diese Weise, wie es möglich wird, das eigene Leben nicht von seinem Sorgen bestimmen zu lassen, sondern seine Sorge bei Gott gut aufgehoben zu wissen.
Das alles gilt dann aber auch mit umgekehrten Vorzeichen für die andere Seite der Gefühlswelt: für Freude und Jubel und Dankbarkeit. Gott ist unser Adressat, ihm dürfen wir aus tiefstem Herzen uns selbst anvertrauen – ganz und gar, mit allem, was wir sind und haben. Und so sollen und wollen wir heute an diesem Tag und auch in Zukunft – als Einzelne und auch in der Gemeinschaft der Chöre – das tun, was uns der Schreiber des Kolosserbriefes ans Herz legt: „Singt Psalmen, Lobgesänge und von Gottes Geist eingegebene Lieder; singt sie dankbar und aus tiefstem Herzen zur Ehre Gottes.“
Amen.