Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Bemühen im Reden und Hören. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne. – Friedrich Schiller hat mit seinen berühmten Worten jedem Beginn etwas ganz besonderes zugesprochen. Und immer wieder können wir das erleben. Das gilt auch für den heutigen Gottesdienst, mit dem die Bibelwoche über den Propheten Jeremia beginnt. Voller Erwartung sehe ich heute wie in jedem Jahr auf diese so intensive Woche, die uns eine Gestalt der Bibel in besonderer Weise nahebringt. Dieses Jahr also Jeremia. Und die Geschichte von diesem Propheten beginnt mit seiner Berufung.
Ein besonderes Wort. – Berufung – „Ich gehöre dazu; ich bin auserwählt!“ Berufen zu werden ist für viele Menschen etwas ganz wunderbares. Meistens verbindet sich mit einer Berufung die Erfüllung eines lang gehegten Traumes oder die Verwirklichung eines Zieles, auf das Menschen lange hingearbeitet haben. Oder es ist eine besondere Ehre, die den Menschen zuteil wird, wenn sie zu etwas berufen werden. Immer wieder bekommen wir es besonders deutlich gesehen, wenn Nationalmannschaften berufen werden. Wie zum Beispiel jetzt, als es um die Handball-Nationalmannschaft für die EM in Norwegen ging. Wie das politische Berufungsverfahren in Hessen und Niedersachsen ausgehen wird, ist eine spannende Frage, die wahrscheinlich heute Abend beantwortet sein und mit der Berufung des jeweiligen Siegers zum Ministerpräsidenten enden wird. Und auch sonst gibt es viele Berufungen auf Stellen oder Posten: in Vereinen auf Vorstandsposten, in Firmen auf Aufsichtsrats und Vorstandsposten, in der Kirche auf Pfarrstellen. Berufung hat so für viele Menschen etwas mit Aufbruch zu tun: Neue Menschen in Leitungspositionen versprechen neue Begeisterung und neuen Schwung, neue Perspektiven im Blick auf die Zukunft.
Manche Berufungen fangen aber auch ganz anders an: ohne den Zauber des Anfangs, den Friedrich Schiller so besungen hat, sondern mit einem Seufzer, geradezu mit einem Aufschrei des Entsetzens, weil es dem Berufenen so gar nicht in den Kram passt, das nun auch noch zu machen, wozu er oder sie nun gerade berufen ist. Ich verrate nicht zu viel, wenn ich jetzt schon sage, dass es sich bei der Berufung des Jeremia um eben eine solche Berufung handelt, die nicht mit der geballten Siegesfaust kommentiert wird, sondern mit einem Seufzer. Und trotzdem ist die Berufung des Jeremia der Auftakt zu einer ganz besonderen Geschichte, die das Volk Gottes viel weiter gebracht hat als jedes Hurra-Geschrei derer, die nur sich selbst verkündigt haben und nicht Gott.
Hören wir aus dem 1. Kapitel des Jeremiabuches: Und des HERRN Wort geschah zu mir: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, und sonderte dich aus, ehe du von der Mutter geboren wurdest, und bestellte dich zum Propheten für die Völker. Ich aber sprach: Ach, Herr HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR.
Und der HERR streckte seine Hand aus und rührte meinen Mund an und sprach zu mir: Siehe, ich lege meine Worte in deinen Mund. Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.
Und es geschah des HERRN Wort zu mir: Jeremia, was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen erwachenden Zweig. Und der HERR sprach zu mir: Du hast recht gesehen; denn ich will wachen über meinem Wort, dass ich‘s tue.
Und es geschah des HERRN Wort zum zweiten Mal zu mir: Was siehst du? Ich sprach: Ich sehe einen siedenden Kessel überkochen von Norden her. Und der HERR sprach zu mir: Von Norden her wird das Unheil losbrechen über alle, die im Lande wohnen. Denn siehe, ich will rufen alle Völker der Königreiche des Nordens, spricht der HERR, dass sie kommen sollen und ihre Throne setzen vor die Tore Jerusalems und rings um die Mauern her und vor alle Städte Judas. Und ich will mein Gericht über sie ergehen lassen um all ihrer Bosheit willen, dass sie mich verlassen und andern Göttern opfern und ihrer Hände Werk anbeten.
So gürte nun deine Lenden und mache dich auf und predige ihnen alles, was ich dir gebiete. Erschrick nicht vor ihnen, auf dass ich dich nicht erschrecke vor ihnen! Denn ich will dich heute zur festen Stadt, zur eisernen Säule, zur ehernen Mauer machen im ganzen Lande wider die Könige Judas, wider seine Großen, wider seine Priester, wider das Volk des Landes, dass, wenn sie auch wider dich streiten, sie dir dennoch nichts anhaben können; denn ich bin bei dir, spricht der HERR, dass ich dich errette.
So beginnt die Geschichte des Jeremia, die er zum Teil selber aufgeschrieben hat, die zum Teil andere aufgeschrieben haben oder die andere mit dem Vorhandenen weitergeschrieben haben. Was noch weiter passieren wird, soll uns in Auszügen in der kommenden Woche beschäftigen, aber dieses erste Kapitel bietet auch schon einiges. Eindeutig und fordernd tritt Gott auf, ja hart und unnachgiebig. Und Jeremia sieht sich von einem Moment zum Nächsten in eine neue Wirklichkeit hineingestellt.
Von Gottes Seite aus ist das allerdings ganz anders. Gott wusste von Jeremia schon bevor seine Mutter es wusste, bevor Jeremia gezeugt war. Und seit er im Leib seiner Mutter heranwuchs war ihm sein besonderes Geschick schon bestimmt. So ist die Berufung zum Propheten nur der folgerichtige und abschließende dritte Schritt: um Jeremia wissen, ihn aussondern und zum Propheten bestellen.
Mit Jeremia wird uns gezeigt, dass auch diejenigen, die in einer ganz besonderen Weise von Gott berufen und gefordert wurden, zuerst einmal mit einem gewissen – sagen wir einmal – Respekt an die ganze Sache heran gegangen sind. Es ist im Grunde das Erkennungszeichen, mit dem echte von falschen Propheten unterscheiden werden können. Keiner hat sich darum gerissen, Gottes Prophet zu werden. Sie werden es alle gegen ihren Willen. Jochen Klepper dichtet:
1 Kein Prophet sprach: „Mich Geweihten sende!“
Eingebrannt als Mal war es in allen:
Furchtbar ist dem Menschen, in die Hände
Gottes des Lebendigen zu fallen.
Kein Prophet sprach: „Mich Bereiten wähle!“
Jeder war von Gottes Zorn befehdet.
Gott stand dennoch jedem vor der Seele,
wie ein Mann mit seinem Freunde redet.
2 Kein Prophet sprach: „Gott, ich brenne!“
Jeder war von Gott verbrannt.
Kein Prophet sprach: „Ich erkenne!“
Jeder war von Gott erkannt.
„Ich bin zu jung“, sagt Jeremia. Ganz schlicht klingt es und irgendwie verständlich, ja anrührend. Und damit ist er uns sehr nahe: „So hätte ich wohl auch geantwortet,“ werden bestimmt viele von uns gedacht haben. Gott legt nach. Es gibt nicht nur der Anspruch, den er gegenüber Jeremia hat, sondern auch seinen Zuspruch: Wie bei Mose und den anderen Propheten beteuert Gott, dass er Jeremia nicht alleine lässt. Und so hat Jeremia seine Berufung doch angenommen und er hat seine Aufgabe ausgeführt. Und so wie er haben es viele getan. Die Bibel berichtet von einigen. Aber es hat ja viele, viele mehr gegeben, die – seit Gott zum ersten Mal mit den Menschen gesprochen hat – das angenommen haben, was Gott ihnen aufgetragen hat – bis heute.
Wir heute – über 2500 Jahre später – werden uns bestimmt fragen: Wie ist das bei mir? Auch wenn wir vielleicht kein so ausgeprägtes prophetische Schicksal vor uns haben, wie Jeremia es erlebt hat: Was ist meine Berufung, oder bin ich einfach nur ins Leben gerufen? Letzteres wäre uns wahrscheinlich das Liebste: Keine Unannehmlichkeiten, kein Kampf, keine Demütigung – einfach nur leben. Aber wie bei den Propheten kann es plötzlich ganz anders werden, wenn auch wir den Ruf Gottes hören: Du, ja Du. Ich, Gott, brauche gerade dich: Doppelpunkt und hier setzen Sie bitte ihren eigenen Namen ein. Du, ja Du. Ich, Gott, brauche gerade dich!
Sind wir dann bereit, diese Berufung anzunehmen? Oder regen sich Widerstände in mir, die mich dazu bringen, diese Berufung abzulehnen? Bringe ich Argumente vor, die in unseren Augen und auf den ersten Blick stichhaltig sind? Die gibt es ja genug: Entweder bin ich zu jung oder zu alt, zu dick oder zu dünn; ich bin zu leise oder zu laut, zu beschäftigt oder ich muss mich gerade ausruhen; ich bin gerade frisch verliebt oder mitten im Ehestreit. In unserer Zeit hat das Verständnis, ja geradezu das Mitleid Hochkonjunktur, das denjenigen entgegengebracht wird, die sich bei etwas anstrengen sollen. Anstrengung wird nur noch als Belastung empfunden und nicht mehr positiv und als Herausforderung gesehen.
Beim Mutter- und Kind-Turnen wird jede Form von Herausforderung bei den Kindern durch die Mütter verhindert, weil es nach drei Minuten schon heißt: „Oh mein Kind, du schwitzt ja schon. Du musst dich unbedingt erst einmal ausruhen.“ Die Beurteilung mit Kopfnoten in der Schule insgesamt, die Frage, ab wann es in der Grundschule Noten auf den Zeugnissen und in den Arbeiten geben soll, ist ebenso eine Belastung der Kinder, die Stress hervorruft, wie die Forderung der Betriebe, dass ihre erwachsenen Angestellten doch pünktlich zu sein hätten. Jugendtreffs dürfen vor der eigenen Haustür nicht entstehen, weil es zu laut sein könnte, aber es wird darüber gewettert, dass Jugendliche nicht wissen, wo sie hin sollen. Die Verantwortung, die bei der Möllberger Friedhofskapelle zu übernehmen ist, kann hier auch erwähnt werden.
Es sind Schlaglichter aus den Diskussionen unserer Gesellschaft – das, was mir gestern Abend eingefallen ist, ohne Anspruch auf Vollständigkeit und politische Ausgewogenheit. Manches mag übertrieben klingen und ich will weder die Mütter beim Turnen noch die Schülerinnen und Schüler oder die Arbeitnehmer ungerecht über einen Kamm scheren, aber im Kern trifft es unsere Gesellschaft. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass Menschen sagen: Ich bin zu dies oder zu das, bloß um nicht das tun zu müssen, was nötig ist, was gefordert ist, um die Not zu wenden. Bei jeder Anstrengung wird die Belastung hervorgehoben, nicht die positive Herausforderung.
Ich sehe aber durchaus auch einen Bezug zur aktuellen Situation in unseren Kirchen: Glaube darf für viele Menschen nichts kosten; in die Kirche, in den Gottesdienst zu gehen darf nicht als Kriterium für Christlichkeit gewertet werden; immer wieder gibt es die Vorstellung, dass für kirchliche Aufgaben wie das Patenamt eine Zugehörigkeit zur Kirche nicht nötig wäre. Auch hier: Die nötige Anstrengung wird als Belastung, ja sogar als Zumutung empfunden.
Wie soll es da erst werden, wenn Gott uns zu etwas beruft, das uns in Widerspruch zu dem bringt, was um uns herum geschieht? Können wir sicher sein, dass es uns nicht so ergeht wie Jeremia, der dem König, den Oberen und dem Volk das Gericht Gottes ankündigen muss, das diese sich mit ihrem Verhalten verdient haben? Sicherlich: Jeremia und seine Verkündigung gehört in die Zeit vor 2500 Jahren und wir können und dürfen das alles nicht einfach so auf uns ein zu eins übertragen. Denn seit den Tagen des Jeremia ist viel geschehen. Das Volk Israel ist in das Exil gezogen und wurde von Gott wieder zurück geholt. Und Jesus Christus hat eine neue Dimension in der Beziehung der Menschen zu Gott eröffnet. Aber auch wenn wir nicht zu einem Weg berufen sind, den Jeremia im Auftrag Gottes gegangen ist: Auch wir als Christen sind durch unsere Taufe in die Spannung von Zuspruch und Anspruch Gottes an uns gestellt haben; auch wir haben mit unserer Taufe einen Auftrag bekommen, eine Berufung: Gottes Wort auszustreuen, Liebe zu üben untereinander und den anderen Menschen gegenüber. Zugegeben – das ist sehr allgemein formuliert. Aber es gibt täglich so viele Möglichkeiten, das zu tun, wozu Gott uns auffordert.
Eines soll aber über den ganzen Schwierigkeiten, die vor Jeremia liegen, nicht vergessen werden: Gott schickt Jeremia nicht einfach so los und überlässt ihn seinem Schicksal. Neben der Berufung Jeremias mit all dem Anspruch stehen die Zusagen Gottes als Zuspruch. Auch wenn es ganz dicke kommen wird: Jeremia wird nicht alleine sein. Gott selbst und seine Macht wird mit Jeremia sein. Und es soll bei dem, was Jeremia ankündigt, nicht nur beim Ausreißen und Einreißen, beim Zerstören und Verderben bleiben. Das Bauen und das Pflanzen hat auch seinen Ort und sein Recht.
Und so schickt Gott auch uns nicht einfach so los, dass wir seinen Auftrag ausrichten. Ich bin mir sicher: Er hört unser manchmal kleinlautes: Ich bin zu jung, ich bin zu alt, ich bin zu dies oder das. Und dann tut er auch bei uns das, was er an Jeremia getan hat und was er an den vielen anderen getan hat – bis hin zu denen, die als Propheten unserer Tage gelten können: Er macht uns seiner Nähe und seiner Kraft gewiss, damit wir anfangen können.
Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, so sagte es Friedrich Schiller. Ja, es ist so, jeder Anfang hat dieses besondere Etwas und für uns Christen heißt das: Wir stehen jeden Tag neu am Anfang bei Gott. Aber nicht wie ein Hamster, der in seinem Laufrad immer nur rennt und rennt, ohne vorwärts zu kommen. Gott fängt mit uns jeden Tag wieder neu an. Seine Liebe geht jeden Tag seinem Auftrag voraus. Er erfüllt unser Herz mit neuem Mut und zeigt uns Wege auf, die wir zuvor nicht gesehen haben, er wandelt unsere Enge in die Weite des Vertrauens und des Bekennens, sodass unser „Ich bin zu dies oder das“ verstummen und einer getrosten Zuversicht weichen muss, die uns die Herausforderung annehmen lasst.
Amen.
Das Gedicht von Jochen Klepper habe ich im Vorbereitungsbuch für die Bibelwoche "ZuMUTungen. Sieben Texte aus dem Buch des Propheten Jeremia" aus dem Aussaat-Verlag gefunden (Texte zur Bibel 23; dort auch weitere Angaben zur Herkunft).