Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Was wir da eben wieder gehört und vor unserem inneren Auge gesehen haben – was uns der Evangelist Johannes und mit ihm die anderen Evangelisten aus einer längst vergangenen Zeit berichten – es trifft und betrifft uns immer wieder neu. Und es ist nicht einfach nur so, dass uns das fremde Leiden eines Menschen anrührte. Dieses Leiden eines fremden Menschen ist schlimm und grausam, aber dieses Leiden ist lange her und Ähnliches erleben andere Menschen auch heute. Wie viele Menschen haben seit damals ebenso gelitten, wie viele Menschen leiden auch heute ebenso oder noch schlimmer als Jesus. Darum geht es nicht, zumindest nicht nur.
Die Dichter in der Barockzeit haben es so dargestellt, als ob sie direkt im Geschehen mit drin wären, als ob sie in eine andere Zeit versetzt wären und bei dem eigentlichen Geschehen mit dabei wären. Und so wurde und wird in diesen Liedern in besonderer Weise das Ich des Dichters und damit auch das Ich der Singenden mit dem Leiden Jesu in Beziehung gebracht. „Ich, ich und meine Sünden“ antwortet Paul Gerhardt auf die Frage in der Strophe vorher, wer denn Jesus so geschlagen habe. Das ist so real, dass viele Menschen heute meinen, mit diesen Liedern nichts mehr anfangen zu können. Den so direkten Bezug zwischen dem Leiden Jesu und ihrem eigenen Leben wollen sie nicht wahrhaben.
Denn: Wer ist in unserer heutigen Zeit schon gerne schuldig? Wer gibt schon gerne zu, dass er oder sie etwas falsch gemacht hat? Immer wieder können wir sehen und hören, wie Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen, sich reinzuwaschen versuchen, indem sie die Schuld für etwas auf andere oder auf irgendwelche Umstände schieben. Und wie es die in der Öffentlichkeit tun, so geht es im Internen, im Persönlichen auch: Der Herr Niemand hat Hochkonjunktur, wenn es darum geht, wer etwas zu verantworten hat. Die Öffentlichkeit ist nur das Spiegelbild des Privaten und Internen. Das ist die eine Seite der Schuld, die heute im Raum steht.
Wer ist in unserer heutigen Zeit schon gerne schuldig? Die zweite Seite der Schuld heute ist, dass Menschen ihre Schuld als Schuld zwar annehmen, dass diese Schuld aber so groß und übermächtig wird, dass die Menschen sie nicht mehr tragen und ertragen können. Eine Entscheidung, die andere ins Unglück gestürzt hat; Worte, die im übertragenen Sinn getötet haben; ein zu langes Warten, bis die Möglichkeit zur Versöhnung nicht mehr da war; und manches mehr. Jedes für sich ein Berg von Schuld.
Wer ist in unserer heutigen Zeit schon gerne schuldig? Die dritte Seite der Schuld heute – wie schon seit ewigen Zeiten – ist, dass Menschen Opfer von der Schuld anderer werden und dass sie das verlieren, an was sie einmal geglaubt haben, dass sie das verlieren, was ihr Leben einmal ausgemacht hat, dass sie als Opfer der Schuld anderer jeden Boden unter ihren Füßen verlieren.
Wer ist in unserer heutigen Zeit schon gerne schuldig? Die vierte Seite der Schuld heute ist, dass keine Schuld da ist, dass die Menschen aber nach Schuld fragen, weil sie sich ihr eigenes Schicksal oder das von anderen Menschen sonst nicht erklären können: Besonders dann, wenn eine Krankheit plötzlich da ist, die alle Lebenshoffnung zu zerstören droht; besonders dann, wenn der Tod die Beziehungen zwischen Menschen zerstört. „Womit habe ich so etwas verdient?“ fragen Menschen dann, als ob die eigene Krankheit oder der Tod eines nahen Menschen eine Strafe für eigenes Vergehen wäre. Sie fragen nach einer Schuld, die sie so gar nicht haben.
Wer ist in unserer heutigen Zeit schon gerne schuldig? Trotz alle dem – ob wir etwas von den vier Seiten der Schuld direkt auf uns beziehen wollen oder müssen oder ob wir uns davon frei wissen – immer wieder neu sehen wir unsere Ferne zu Gott: als Einzelne, als Kirche, als Menschheit insgesamt. Gestern vor fünf Jahren begann der Irak-Krieg und die Welt ist seitdem politisch nicht friedlicher geworden. Mächtige Konzerne bestimmen über das Wohl und das Wehe vieler Menschen und wenn in Deutschland Nokia und Benq den Automatismen einer wirtschaftlich globalisierten Welt folgen, ist das schlimm und nur die Spitze eines Eisberges der Weltwirtschaftsunordnung, die vor allem und noch viel mehr die Menschen in Afrika und Asien bedroht.
Alles dies: Die vier Seiten der persönlichen Erfahrung von Schuld und die Verflechtung von uns einzelnen Menschen in die Gegenebenheiten der Welt und die Gottesferne der Menschheit ist in den Passions-Liedern, im „Ich, ich und meine Sünden“ von Paul Gerhardt enthalten. Und doch bleiben alle diese Lieder nicht bei der Schuldzuweisung an uns selbst stehen: dass die Schuld der Menschen, dass die Sünde der Welt Jesus ans Kreuz gebracht habe. Sie gehen den einen entscheidenden Schritt weiter; den einen erstaunlichen und wunderbaren Schritt, den seit den ersten Christen immer wieder Menschen als Frucht des Sterbens Jesu, als Frucht von Karfreitag empfunden haben:
Das Leiden dieses Menschen, dieses Jesus von Nazareth, trifft und betrifft uns, weil wir tief in unserem Inneren spüren, dass dieses Geschehen etwas mit uns selbst zu tun hat und mit uns hier und heute – fast 2000 Jahre später – etwas macht.
In Jesus Christus erfüllt sich für uns als Christen, was schon viele Jahrhunderte vorher durch den Mund eines Propheten von dem gesagt wurde, der ebenso für das Volk Gottes leidet und erst im Nachhinein verstanden wird. Über den leidenden Gottesknecht heißt es in Jesaja 53:
„Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“
Schon Jesaja räumt mit der alten Vorstellung auf, dass Gott der Urheber des Leides wäre, das der Gottesknecht erdulden muss. Nicht Gott ist schuld am seinem Leiden, sondern die Menschen. Gott ermöglicht vielmehr, dass die Schuld von den eigentlich Schuldigen weggenommen werden kann. Und indem die Menschen dies wahrnehmen, dass da einer stellvertretend für sie leidet und stirbt, wird ihnen eine neue Zukunft eröffnet. Ohne diese Anerkennung geht es nicht.
So schenkt Karfreitag einen Neuanfang, der radikaler nicht gedacht werden kann. Gott greift zu unseren Gunsten ein, indem er den unheilvollen Verstrickungszusammenhang von Schuld und Sünde unterbricht und für uns einsteht.
So öffnet Karfreitag uns die Augen über uns und unser Wesen. Die Abgründe unserer selbst werden schonungslos wachgerufen. Karfreitag zeigt anschaulich, wozu wir Menschen in der Lage sind. Aushalten können wir diese Erkenntnis nur, weil uns nur dadurch der Weg in eine neue Zukunft durch Gott eröffnet wird. Erschrecken und dankbare Freude fallen in eins.
So rüttelt Karfreitag an unserer festgefahrenen Sicht auf die Welt. Der Allerniedrigste ist in Wahrheit Gott. Der Allerelendste ist in Wahrheit der Erhabene, und der, der den schlimmsten Verbrechertod erlitt, ist in Wahrheit ohne Sünde. Karfreitag gibt uns Freiheit gegenüber den herrschenden Vorstellungen, Denkmustern, Mächten und Gewalten. Karfreitag will uns Mut machen, phantasievoll mit der Welt umzugehen, denn: Es könnte ja alles auch anders sein … .
Der Abschnitt aus dem ersten Petrusbrief, den wir als Psalm gesprochen und gebetet haben, nimmt die Worte des Propheten zum Teil wörtlich auf, er bezieht sie auf Jesus Christus und seinen Weg ans Kreuz und er eröffnet uns so ein Verständnis für den Tod Jesu, das nicht bei der reinen Betrachtung über den Tod eines Menschen stehen bleibt, sondern unser eigenes Leben mit unserer menschlichen Schuld und Gottabgewandtheit, mit all unseren Lasten und Belastungen bewusst macht, es mit dem Sterben Jesu in Beziehung und deshalb in Bewegung bringt.
Er, Christus, trug unsere Sünden selbst hinauf / an seinem Leibe auf das Holz, dass wir, der Sünde gestorben, / der Gerechtigkeit leben:
Fürwahr, er trug unsre Krankheit / und lud auf sich unsre Schmerzen, / durch seine Wunden sind wir geheilt.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Unsere Sünden, unsere Krankheit und unsere Schmerzen sind mit Jesus Christus ans Kreuz geschlagen. Alles das, was uns belastet und beschwert; alles das, was uns niederdrückt und was uns den Blick in die Zukunft raubt und den Weg in die Zukunft verstellt, ist uns von genommen. Um dieses nachzubuchstabieren, damit dieses in uns Raum gewinnen kann, darum sind wir heute hier versammelt und bedenken angesichts des Todes Jesu unser Leben.
Ich möchte dies heute zusammen mit Ihnen sichtbar und so auf besondere Weise erfahrbar werden lassen. Alle unsere Last – was wir für uns persönlich empfinden, was wir als Last der Menschen sehen – alle unsere Krankheit und unsere Schmerzen, unsere Sünde und Gottesferne können wir in Worte fassen und aufschreiben, sie so benennen und ihnen einen Namen geben, damit sie uns nicht mehr als namenlose Angst in Schrecken versetzen. Und alles das können wir dann an das Kreuz nageln. Denn Jesus trug alle diese unsere Last hinauf ans Kreuz, damit wir, der Sünder und Gottesferne gestorben, der Gerechtigkeit und in der Freiheit der Kinder Gottes leben. Denn durch seine Wunden sind wir geheilt. Amen.