Predigt am Weihnachtsmorgen zu Paul Gerhardts „Ich steh an deiner Krippen hier“

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Bemühen im Reden und Hören. Amen.

Liebe Schwestern und Brüder in Christus!

Was werden die Hirten wohl gedacht haben, als sie endlich an der Krippe gestanden haben? Nach ihrem Weg zum Stall, auf dem sie schon vielen Leuten von ihrer Begegnung mit den Engeln erzählt hatten und die nur mit Unverständnis reagiert hatten? Was werden sie wohl gedacht haben? … Was denken wir, wenn wir am Heiligen Abend vor der Krippe stehen, die von dem großen Weihnachtsbaum überragt wird? Was denken wir, wenn wir in diese oder jene Kirche gehen und die liebevoll gestalteten Krippen sehen? Vielleicht stehen wir mit den Worten Paul Gerhardts da: „Ich steh an deiner Krippen hier“. Dieses Lied wurde 1653, also vor 357 Jahren gedichtet, etwa fünf Jahre nach dem Ende des 30-jährigen Krieges, jenem Ereignis, das fast ganz Mitteleuropa als Trümmerhaufen zurückgelassen hatte.

(Eine vollständige Fassung des Liedes findet sich zum Beispiel hier: http://www.zeno.org/Literatur/M/Gerhardt,+Paul/Gedichte/Gedichte/Ich+steh+an+deiner+Krippen+hier. Die übrigen Strophen sind über den Gottesdienst verteilt gesungen worden.

Wie in vielen anderen Gedichten geht es Paul Gerhardt in seinem Weihnachtslied aber nicht um die vielen wunderbaren Motive der Weihnachtsgeschichte: Er braucht keine Propheten und keine Hirten, er braucht auch keine Engel und ihren himmlischen Gesang oder Maria und Josef; und auch keine theologischen Beschreibungen des Kindes als Gottessohn und keine Jungfrauengeburt. Paul Gerhardt braucht einfach nur das Ich des betend Singenden und das Du, das er anredet, das Du mit dem er auf eine so wunderbar harmonische Weise verbunden ist, wie es nur Liebende sein können.

Was denken wir, wenn wir an der Krippe stehen? Zu allererst sind wir da – so einfach es klingt, so wichtig ist es. Auch wir haben davon gehört, dass es geboren ist. Auch wir sind heute morgen gekommen: wie die Hirten damals, wie die Menschen, die auch zur Zeit von Paul Gerhardt Krippenlieder an den großen Krippendarstellungen in den Kirchen gesungen haben, und so das Kind ganz anschaulich vor sich hatten.

Wie aber stehen wir zu dem Kind, das da besungen wird? Paul Gerhardt sieht das Kind wohl nicht so sehr mit leiblichen Augen an, sondern mit den Augen des liebenden Gemütes, wie wir es in der zweiten Strophe zu Beginn gesungen haben. Es ist eine ganz besondere, liebevolle Zärtlichkeit. Der Dichter verwendet Verkleinerungsformen, um das zu beschreiben: nicht das hoheitsvolle „O Jesu, du mein Leben“, wie wir es aus dem Gesangbuch kennen, vielmehr heißt es im Original gefühlvoll: „O Jesulein, mein Leben“.

Wie stehen wir zu dem Kind, das da besungen wird? Ein Zweites neben der Liebe kommt dazu: Paul Gerhardt sagt es mit zwei Worten: Dieses Kind ist „mein Leben“. Jesus ist „mein Leben“ – Jesus ist unser Leben, er ist die Voraussetzung und die Grundlage unseres Lebens. Und zwar Leben im umfassenden Sinn: nicht nur, dass wir atmen und uns bewegen; sondern dass unser Sein einen Sinn und ein Ziel hat, dass wir leben und nicht nur blind umherlaufen und funktionieren, dass wir im Leben wie auch im Sterben von der Gewissheit des Lebens getragen werden – Jesus Christus, dieses Kind ist mein Leben.

Was denken wir, wenn wir an der Krippe stehen? Allem, was wir tun wollen oder können geht das voraus, was Gott tut: Was wir ihm bringen können, hat er uns schon längst gegeben. Er handelt zuerst. Paul Gerhardt stellt es sich so vor: Noch bevor ein Mensch überhaupt die Möglichkeit hat, etwas für sein Heil zu tun, weil der Mensch Gott noch gar nicht kennt – noch im Mutterleib – hat sich Christus und damit auch Gott dem Menschen zugewendet. Nicht dem Menschen ganz allgemein, sondern jeder und jedem einzeln. Ihnen und Ihnen und Ihnen und auch mir. Vielleicht hat Paul Gerhardt dabei den Psalm 139 im Ohr gehabt, den wir zu beginn gesprochen haben und den Vers des Propheten Jesaja: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“

Was denken wir, wenn wir an der Krippe stehen? Die vierte Strophe wendet sich dem Menschen vor der Krippe zu, sieht ihn, wie er ist: „Ich lag in tiefster Todesnacht.“ Schon das Wort Nacht hat für viele Menschen einen negativen Beigeschmack. Nachts kann man nicht schlafen, in der Dunkelheit geschehen Verbrechen, in der Dunkelheit der Nacht hat man Angst. Verstärkt wird in unserem Lied der Eindruck noch durch die Beifügung des Wortes Tod. Die Todesnacht ist noch etwas schwärzer, noch etwas unheimlicher, noch bedrohlicher. Und als ob das alles noch nicht ausreicht, ist es die tiefste Todesnacht, die uns Paul Gerhardt vor Augen malt. Ganz weit weg zu sein vom Leben, ganz weit weg zu sein von Gott, das ist die Situation, die er für den Menschen sieht, damals nach dem Entsetzen des 30-jährigen Krieges verständlich.

Und was denken wir, wenn wir an der Krippe stehen? Trotz aller Leuchtreklame und trotz aller Scheinwerfer in unseren Städten werden viele Menschen sich auch heute in einer solchen Dunkelheit sehen. Im Dunkel, weil der Partner gestorben ist …, im Dunkel, weil die Arbeit weg ist …, im Dunkel, weil die Kinder Probleme machen …, im Dunkel, weil die Eltern alt werden …, im Dunkel, weil es in der Schule nicht so läuft …, immer wieder im Dunkel …

Und wieder geht von dem Kind in der Krippe der Anstoß aus, schafft dieses Kind die Verbindung zu uns: Wie das Volk, das im Finstern wandelt und ein großes Licht sieht, so sieht der Mensch die Sonne: das Licht des Lebens, eine große Sonne in aller Verlassenheit. Welch eine Perspektive! Die Sonne zu sehen – trotz aller Dunkelheit um uns herum – die Sonne zu sehen, ohne die kein Leben möglich wäre: Licht – Leben – Freude – Wonne. Die Sonne strahlt in uns herein und lässt den Glauben wachsen – „wie schön sind deine Strahlen“ dichtet Paul Gerhardt.

Das Kind in der Krippe ist diese Sonne. Es war da – lange, ehe es auf der Erde Leben gegeben hat. Das Kind in der Krippe ist diese Sonne. So wie später der erwachsene Jesus von sich sagen wird: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben. Ich bin in die Welt gekommen als ein Licht, damit, wer an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibe.“

Was denken wir, wenn wir an der Krippe stehen? Jedes Licht zieht den Blick an – auch dieses: „Ich sehe dich mit Freuden an“: Wenn ich sehe, wie den Erwachsenen das Herz aufgeht, wenn kleine Kinder lächeln, – wenn ich merke, wie das auch bei mir passiert – dann kann man diese Zeile, diese Strophe und auch die drei folgenden Strophen ohne Schwierigkeiten verstehen: Ich sehe dich mit Freuden an und kann mich nicht satt sehen … dieses selige Kinderlächeln hält uns befreiend gefangen und lässt uns nicht mehr los, es macht das Herz weit. Man verliert sich in diesem Lächeln und fühlt sich endlos weit, wie man sich auf dem weiten Meer frei und weit fühlt.

Singen wir die Strophen 6 bis 8.

Es ist eine ganz andere Stimmung, die in der fünften Strophe angeschlagen wird. Auch an Weihnachten herrscht keine Weihnachtsbetulichkeit. Paul Gerhardt weiß um die Nöte der Menschen damals. Nach all den Jahren des Krieges sieht er immer noch die Traurigkeit in den Herzen der Menschen, sieht ihre Trostbedürftigkeit und er spricht ihnen Mut zu. … es sind oft auch die Nöte der Menschen heute: Auch bei uns weinen heute viele Menschen – weil sie nicht mehr wissen, wohin sie sollen, weil sie nicht mehr wissen, was und wo sie arbeiten sollen, weil sie nicht mehr wissen, mit wem sie reden sollen.
Die Probleme der Menschen damals und die Probleme heute waren nicht dieselben – und doch gilt die Antwort des Kindes auf die Verzweiflung der Menschen heute wie damals. Das Kind in der Krippe antwortet dem Menschen, der vor ihm steht: „Ich bin dein Freund, ein Tilger deiner Sünden. Was trauerst du, mein Brüderlein? Du sollst ja guter Dinge sein, ich zahle deine Schulden.“ Nicht so sehr die wirtschaftlichen Probleme sind es, die die Traurigkeit und die Verzweiflung hervorrufen. Das, was wirklich beschwert, sagt Paul Gerhardt, sind die Sünden; es sind die Dinge, die nicht aufgearbeitet sind. Wenn Menschen nicht mehr miteinander reden, weil niemand den ersten Schritt auf den anderen hin machen will. Vielleicht genereller: dass Menschen aneinander vorbei leben und sich gar nicht wahrnehmen – wenn ich nur mir ein Nächster bin und nicht meinen Mitmenschen. Dafür ist das Kind in der Krippe gekommen. Schon hier klingt an, was mit Karfreitag und Ostern zur Vollendung kommt. Paul Gerhardt hat es in seinen Liedern immer im Blick – auch in diesem kommt der Bezug zu Tod und Auferstehung Jesu immer wieder vor.

„Ich bin dein Freund …“ sagt das Kind in der Krippe… „Ich bin es – du brauchst nichts dafür zu tun.“ Die Zärtlichkeit in den Worten des Betenden spiegelt sich in der liebevoll zärtlichen Anrede des Kindes an den Betenden: „mein Brüderlein“.

Was denken wir, wenn wir an seiner Krippe stehen? Wir wollen so gerne etwas für dieses Kind tun. Wir wollen ihm Gutes tun:

Anderen vor allem erzählen, wie wunderbar dieses Kind ist. Mond und Sterne haben die Menschen schon immer fasziniert und Vergleichsmöglichkeiten geboten. Aber die Augen dieses Kindes stellen sogar Mond und Sterne in den Schatten. Und dann klingt doch einmal an, dass dieses Kind ja nicht irgendeines ist, dass es vielmehr eines ist, das zum Herrschen geboren ist: Die so liebevollen und zärtlichen Gefühle des Betenden wollen dann die Armut des Kindes nicht bestehen lassen. Samtige Blütenblätter für das Kind, eines Königs würdig.

Doch müssen wir immer wieder feststellen, dass es nicht an uns liegt, zu sagen, was gut für das Kind ist – Jesus weiß das selbst. Gottes Weg ist eben nicht das, was wir uns in unserer Weihnachtsfreude für dieses Kind ausmahlen. Trotzdem bleiben die Strophen 9 bis 12 eine ganz besondere Form der inneren Zuwendung vor allem auch für das betende Ich. Wir werden sie später zur Vorbereitung auf das Abendmahl singen.

Was denken wir, wenn wir an seiner Krippe stehen? Trotz Weihnachten, Kerzen und Fröhlichkeit spricht Paul Gerhardt das Kind auf seinen zukünftigen Weg an. Dieser Jesus wird nicht danach fragen, wozu er Lust hat: „er hat sich bei uns eingestellt, an unsrer Statt zu leiden.“ Denken wir an die Passion Jesu, wenn wir an der Krippe stehen? Ohne Karfreitag wäre auch Weihnachten sinnlos, denn – wenn Jesus nicht für uns gestorben wäre …? So ist es gut und wichtig an Weihnachten Abendmahl zu feiern und uns daran erinnern zu lassen, dass Jesus Christus für uns gestorben und auferstanden ist. Er hat uns gerecht gemacht vor Gott, ohne ihn lägen wir noch immer in tiefster Todesnacht – ohne die Sonne zu sehen.
Das Abendmahl stellt uns auch an Weihnachten zwischen die Zeiten: Auf der einen Seite steht die Geburt Jesu damals: als Gott Mensch wurde. Auf der anderen Seite steht die Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten, denn im Abendmahl verkündigen wir den Tod des Herrn, bis er kommt in Herrlichkeit, wenn wir von dem Brot essen und aus dem Kelch trinken.

So wundeschön Paul Gerhard mit seinem Lied ganz dicht an der Krippe bleibt, so wenig verliert er auch nicht aus den Augen, was das Leben dieses Kindes ausmachen wird.

Auch für Paul Gerhardt gehören Krippe und Kreuz und die Erlösung der Menschen, die aus dem Kreuz heraus erwächst untrennbar zusammen. Und so schließt das Lied mit drei Strophen, die das Ich des Sprechenden ganz eng mit der Erlösungstat des Kindes zusammen bringen: Der Frieden, der den Menschen der Welt durch das Lamm Gottes verheißen ist und von dem wir beim „Christe, du Lamm Gottes“ singen, gilt auch dem betenden und sprechenden Ich des Liedes – auch wenn wir uns das gar nicht so recht vorstellen können, dass ausgerechnet ich von Jesus eingeladen bin.

Aber es gilt – auch für die, die dieses Lied beten und singen – die Zusage Jesu, wie sie uns Johannes in der Offenbarung übermittelt: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir. So ist das Kind in der Krippe, das Paul Gerhardt – und wir mit ihm – betrachtet im Abendmahl gegenwärtig: Komm, komm und lege bei mir ein dich und und all deine Freuden. Und die betend Singenden sind es wert, mit dabeizustehen und zu empfangen.
Amen.

Ein sehr schöner und ausführlicher Kommentar des Liedes von Christa Reich findet sich in dem Buch: Geistliches Wunderhorn. Große deutsche Kirchelieder, herausgegeben und erläutert von HJ.Becker, A.Franz, J.Henkys, H.Kurzke, C.Reich, A.Stock, München, C.H.Beck 2001, S. 249-261.

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