Predigt am 3. November 2013 über Jesaja 62,6-7.10-12

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Am Donnerstag war Reformationstag – der Tag, an dem wir daran denken, dass der Mönch und Professor Martin Luther vor inzwischen 496 Jahren eine Bewegung in Gang gesetzt hat – eine Bewegung, die die christliche Landschaft der Welt verändern sollte: Die Kirche bekam ein neues Gesicht, eine neue Gestalt.
Wie es dazu gekommen war? Martin Luther war von einer unbändigen Sehnsucht erfüllt, einer Sehnsucht nach Gott und seiner Liebe. Und so hatte er in immer neuen Anläufen versucht, Gott nahe zu kommen; er hatte seine Familie vor den Kopf gestoßen, als er die von seinem Vater vorgesehene Ausbildung zum Juristen in den Wind schlug und Mönch wurde; er hatte seine Ordensoberen in die Enge getrieben mit seinen Fragen; er hatte Gott in Rom, in der ewigen Stadt gesucht und war nur erschrocken und erzürnt zurückgekommen; er hatte Theologie gelernt und dann gelehrt und trotzdem keinen wirklichen Zugang zu Gott gefunden. Geblieben war über all die Jahre seine Sehnsucht nach Gott.
Und ganz eng mit Martin Luthers Sehnsucht nach Gott war seine Vorstellung verbunden, wie die Kirche sein sollte, in der und für die er leben wollte. Zuerst war es nur die genaue Vorstellung, in welcher Kirche Martin Luther nicht leben wollte: Er wollte keine Kirche, die nur mit sich selbst beschäftigt war und sich darum kümmerte, wie sie mehr Geld bekommen konnte; er wollte keine Kirche, die den Menschen statt der befreienden Botschaft von Gottes Gnade immer neue Hürden und Steine in den Weg legte, wenn sie zu Gott kommen wollten.
Der Zorn über die Kirche seiner Zeit und seine Sehnsucht nach Gott führten Martin Luther schließlich zu seiner grundlegenden Erkenntnis: Gott kommt zu den Menschen und spricht sie gerecht, die Menschen müssen sich nicht endlos mühen, sie dürfen Gottes Liebe einfach als Geschenk annehmen und als seine Kinder frei und fröhlich leben. Was Martin Luther dabei auch ganz wichtig war: Aus der Freude der Menschen über diese Annahme bei Gott, erwächst das Miteinander der Kinder Gottes untereinander und mit den anderen Menschen.
Vielleicht hat Martin Luther nach dem ersten Aufbruch, als der evangelische Glaube immer weitere Kreise zog, auch die Verse aus dem Jesajabuch vor Augen gehabt, als er seine Vorstellung vom Glauben und von der Kirche entwickelte. Die eigene Situation war aus der Sicht Martin Luthers und der neuen evangelischen Kirche vor 500 Jahren der Situation des Volkes Israel nach dem Exil gar nicht so unähnlich, denn vor 2500 Jahre sah es so aus:
Der Aufbruch war gemacht, das Volk war aus der Babylonischen Gefangenschaft zurückgekehrt und hatte angefangen, Jerusalem wieder aufzubauen. Alles hätte so gut und schön sein können, aber es funktionierte noch nicht wirklich. Immer wieder waren die Menschen von Hoffnungslosigkeit bedroht, sahen keine Zukunft für sich und ihre Stadt. Jerusalem lag immer noch am Boden – und damit auch seine Menschen.
In diese Situation spricht der Prophet, wie es im Buch Jesaja, im 62. kapitel aufgezeichnet ist: 6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Liebe Gemeinde!
Der Prophet reagiert auf die Situation in und um Jerusalem in zwei verschiedene Richtungen: Zum einen stellt er Wächter auf die Stadtmauer. Ihre Aufgabe ist aber eine etwas andere als sonst: Sie sollen erinnern, ganz eindringlich, ohne sich selbst Ruhe zu gönnen. Wen? Das ist das Erstaunliche: Sie sollen Gott erinnern, und ihm keine Ruhe gönnen; sie sollen ihm in den Ohren liegen, immer wieder. Immer wieder neu sollen sie Gott bedrängen, bis er seine Versprechen wahrgemacht haben wird.
Die zweite Reaktion des Propheten: Er macht seine Leute, die so oft traurig und mit hängenden Köpfen dastehen, zu einem Modellprojekt: Ihr sollt in und mit Eurer Stadt ein Zeichen aufrichten für alle anderen. Er reißt sie aus ihrer Lethargie, denn er traut ihnen etwas zu; er nimmt sie in die Pflicht, denn sie sind in seinen Augen die Wegbereiter für Gott. Gott kommt und er kommt auf IHREM Weg, den sie machen sollen.
Der Inhalt des Modellprojektes hört sich im ersten Moment gar nicht modellhaft an: Steine wegräumen sollen sie. Steine wegräumen? Ich bin mir sicher, schon damals, als der Prophet die Worte zu ersten Mal sprach, war ihm und seinen Zuhörens klar, dass es sich nicht nur um herkömmliche Steine und Trümmerstücke handelte.
Was hindert die Menschen daran, Gott zu suchen und ihn zu finden? Es sind auch damals die ganz elementaren Bedürfnisse der Menschen gewesen: Wer nicht weiß, was er essen soll und womit er seinen Durst stillen soll; wer nicht weiß, wo er in der nächsten Nacht schlafen soll; wer nicht weiß, wie er seinen Kindern eine Zukunft ermöglichen soll; wer alles das nicht weiß, wird kaum nach Gott fragen. Aber da, wo er von Menschen im Auftrag dieses Gottes das alles angeboten bekommt, da wird sich sein Blick sicher auch auf diesen Gott richten.
Wo Menschen menschenwürdig behandelt werden, ist Gott ganz nahe. Das ist das Modellprojekt, das Jesaja damals aufgestellt hat und das Martin Luther für seine Reformation übernommen hat und für uns als reformatorische Christen zur Aufgabe gemacht hat: Auch wir sind aufgerufen, Modellprojekt zu sein.
Ich höre auch das ‚Aber‘ von vielen heute im Jahr 2013: „Die Sehnsucht nach Gott ist bei so vielen Menschen doch gar nicht mehr vorhanden! Der christliche Glaube ist doch gar nicht mehr gefragt!“ Ich antworte gerne: Die Sehnsucht der Menschen nach Halt in ihrem Leben, ihre Sehnsucht nach etwas, das wirklich satt macht und den Durst nach Leben stillt – diese Sehnsucht ist heute immer noch und ebenso groß wie früher da. Es ist vielleicht der größte Stein, den es beiseitezuschaffen gilt: dass Menschen mit ihrer so großen Sehnsucht nach Leben, Gott als Möglichkeit nicht sehen können.
Was heißt ‚gemäß der Reformation leben‘ dann heute? Eben nicht, dass wir zurückblicken auf Martin Luther vor fast 500 Jahren und denken: ‚Ach damals!!!‘ ‚Reformation heute‘ – das heißt vielmehr als Wächter auf den Mauern unserer Zeit zu stehen und Gott in den Ohren zu liegen, bis er seine Verheißungen erfüllt. Und Wächter sind wir alle: jede und jeder von uns als getaufte Christen; und die christliche Kirche insgesamt; die protestantischen Kirchen sicherlich ganz besonders. Und: ‚Reformation heute‘ heißt dann auch: Die Steine wegräumen, die den Menschen den Weg zum Leben und zu Gott erschweren oder gar unmöglich machen.
Auch für uns heute sind damit nicht irgendwelche Steinklumpen gemeint. Auch bei uns heute geht es darum, den Menschen die Tore und Türen aufzumachen und den Weg zu ebnen: Flüchtlingen aus anderen Ländern, die zuhause vom Tod bedroht sind; Menschen aus dieser Gegend, die trotz aller Anstrengungen und unzähliger Bewerbungsschreiben keinen Boden unter ihre Füße bekommen.
Ja, auch wir heute sind Modellprojekt mit unserem Beten und unserem Tun – in unserer evangelischen Kirche und in unserer Gemeinde, als Kirche insgesamt und jeder und jede Einzelne: Wir dürfen mitarbeiten an seinem großartigen Werk. Wir dürfen darauf vertrauen, dass Gott sich Menschen beruft, die seine Kirche bilden. Und zwar eine Kirche, der es nicht auf Macht und Geld ankommt, sondern der es wichtig ist, dass sein Reich kommt, um das wir beten, dass sein Frieden und seine Gerechtigkeit Wirklichkeit werden. Es sind die, die sich von seinem Wort berufen und an seinem Tisch gestärkt aufmachen, um das Wort Gottes zu sagen in eine Welt, die es nicht hören will oder kann, um seinen Frieden einer Welt anzusagen, die auf Gewalt baut, um auch da Dienst zu tun, wo kein Lohn zu erwarten ist. Denn: „Siehe, dein Heil kommt!“
Die Erwartung des kommenden Heils wach halten in einer oft so heillosen Welt – offen für Jerusalem und die Menschen, für die Kirche und die Welt. Das ist Kirche der Reformation – auch und gerade heute. Es kann keine Gemeinde geben, die innerhalb der Mauern bleibt, sie muss die Mauern öffnen und denen die Bahn bereiten, die vielleicht gar nicht darauf warten.
Amen.

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