Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde am 3. Advent!
Was würden Sie wohl denken, wenn ich die Predigt nicht mit: „Liebe Gemeinde!“ beginnen würde, sondern etwa folgendermaßen:
„Ihr falschen Hunde! Wer hat euch denn so sicher gemacht, dass ihr meint, auf der sicheren Seite zu sein und nicht im Gericht unterzugehen? Seht zu, dass ihr greifbare Beweise eurer Weihnachtsvorbereitung bringt. Und nehmt euch nicht vor, zu sagen: Wir sind doch getauft und deshalb Gottes Kinder. Ich sage euch: Gott kann sich Kinder aus den Steinen dieser Kirche erwecken. Euer Fundament ist schon unterhöhlt. Wenn die letzten Stützen weggenommen werden, stürzt alles zusammen.“
Liebe Gemeinde! Wie wäre das? Eine Publikumsbeschimpfung sonder gleichen und so etwas ausgerechnet jetzt in der Adventszeit, wo doch alles so schon harmonisch sein soll – vor allem in der Kirche, dem Ort der Liebe? Würden nicht viele empört die Arme verschränken und denken: „Was redet der da? So eine Unverschämtheit!“ Würden, wenn es so weiter ginge, nicht einige sogar aufstehen und unter Protest die Kirche verlassen – Austrittserklärung am Montag beim Amtsgericht inklusive?
Mit alledem wäre zu rechnen, denn wir erwarten solche Worte nicht bei uns im Gottesdienst und auch nicht von der Kirche als Institution. Wir erwarten – durchaus berechtigt – Zuspruch und Trost, Balsam für die Seele und dann wirken solche Worte um so brutaler, erschreckender, verstörender.
Unter anderen Umständen würden diese Worte vielleicht nicht so negativ aufgenommen. In Zeiten großer Bußbewegungen, wenn Menschen sowieso schon um eine Neuausrichtung ringen, weil sie für sich erkannt haben, dass sie irgendwie auf dem falschen Weg sind, erscheinen sie den Menschen weniger abstoßend.
Und es hat tatsächlich Momente gegeben, in denen solche Worte nicht nur nicht abgelehnt, sondern beachtet und angenommen wurden. Eine solche Situation schildert uns der heutige Predigttext aus dem Lukasevangelium im 3 Kapitel. Nach der Berufung von Johannes durch Gott beginnt dieser seine Taufaktionen, um den Menschen einen neuen Anfang in ihrem Leben und mit Gott zu ermöglichen.
Lukas berichtet zunächst: Und Johannes kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja (Jesaja 40,3-5): »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.«
Johannes der Täufer predigt die Worte Jesajas und übernimmt dessen Bild: was krumm und schief ist, das soll gerade werden – festgemacht am Bild der Landschaft mit ihren Bodenunebenheiten: Täler und Hügel sollen ausgeglichen werden, bis ein ebener Weg entstanden ist. Es ist eine Predigt, die damals auf offene Ohren gestoßen ist: Tausende sind aus Jerusalem und den anderen Städten zu Johannes gezogen und wollten sich taufen lassen, weil sie für sich erkannt hatten, dass es mit ihrem Leben so nicht weiter gehen konnte. Irgendetwas stimmte nicht in ihrem Verhältnis zu Gott.
Da waren sie also, die Menschen, die guten Willens waren, sich zu verändern, ihr Leben neu auf Gott hin auszurichten. Lukas berichtet weiter: Da sprach Johannes zu der Menge, die hinausging, um sich von ihm taufen zu lassen: Ihr Schlangenbrut, wer hat denn euch gewiss gemacht, dass ihr dem künftigen Zorn entrinnen werdet? Seht zu, bringt rechtschaffene Früchte der Buße; und nehmt euch nicht vor zu sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott kann dem Abraham aus diesen Steinen Kinder erwecken. Es ist schon die Axt den Bäumen an die Wurzel gelegt; jeder Baum, der nicht gute Frucht bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen.
Liebe Gemeinde! Es sind harte Worte, die Johannes an seine Hörer richtet. Schlangenbrut: Das waren in den Augen der Israeliten damals die nichtgläubigen anderen; und jetzt werden sie von Johannes selber so bezeichnet. Als Kinder Abrahams und damit vor allem als Erben der Verheißung, die Abraham bekommen hatte, so haben sich die Juden damals begriffen. Sie waren sich ihrer Erwählung sicher. Und Johannes stellt das alles radikal in Frage. Radikal – das Wort heißt übersetzt: an die Wurzel gehend; und genau so sagt es Johannes: die Axt ist schon an die Wurzel gelegt. Das Fundament der eigenen Heilsgewissheit ist nicht mehr sicher. Deshalb habe ich in meiner Übertragung die Taufe aufgenommen, die das Fundament unserer Heilsgewissheit ist. Wer weiß, ob Johannes heute auch unsere Heilsgewissheit in Frage gestellt hätte.
Ich frage aber noch einmal: Wie hätten wir wohl reagiert – damals bei Johannes in der Wüste? Wären wir empört durch den Wüstensand zurück nachhause gestapft und hätten uns über den unnötigen Weg und vor allem diesen Idioten aufgeregt, der meinte, er könne die Leute beschimpfen, die in bester Absicht zu ihm gekommen wären? Vielleicht hätten wir so reagiert, vielleicht gab es damals auch Einzelne, die das gemacht haben. Die Mehrzahl aber hat ganz anders reagiert.
Lukas berichtet weiter: Und die Menge fragte ihn und sprach: Was sollen wir denn tun? Er antwortete und sprach zu ihnen: Wer zwei Hemden hat, der gebe dem, der keines hat; und wer zu essen hat, tue ebenso. Es kamen auch die Zöllner, um sich taufen zu lassen, und sprachen zu ihm: Meister, was sollen denn wir tun? Er sprach zu ihnen: Fordert nicht mehr, als euch vorgeschrieben ist! Da fragten ihn auch die Soldaten und sprachen: Was sollen denn wir tun? Und er sprach zu ihnen: Tut niemandem Gewalt oder Unrecht und lasst euch genügen an eurem Sold!
Trotz aller Beschimpfung, die sie sich von Johannes haben anhören müssen, spürten die Menschen damals doch, dass Johannes ihnen nicht nur irgendwie etwas zu sagen hatte, sondern dass er mit seinen Worten ihr Problem getroffen hatte. Die Menschen, die zu Johannes kamen, hatten die innere Größe und Wahrhaftigkeit, sich selber in seinen Worte wiederzuentdecken und das zu akzeptieren. Das ist eine besondere Sache. Das können nicht viele. Meistens reicht es noch, für sich zu erkennen: Ja, das stimmt. Aber das dann auch noch öffentlich zuzugeben, indem man da bleibt und sich von Johannes untertauchen lässt? Dazu gehört Einiges. Denn: Was würden wohl die Nachbarn sagen …
Die Gescholtenen springen also über ihren Schatten, sie bleiben in der Wüste und werden konstruktiv: „Was sollen wir denn tun?“ Wieder weiß ich nicht, was die Menschen damals erwartet haben, was wir heute erwarten würden, was Johannes ihnen und uns wohl aufdrücken würde: welche Bußübungen, welche großen Aktionen nötig sein würden, um wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Mancher mag ja auf den Gedanken kommen: Je mehr, desto besser; je großer die Überwindung, desto reichhaltiger die Belohnung; je niedriger man sich macht, desto höher steht man hinterher bei Gott.
Aber auch hier wird Johannes unseren Erwartungen überhaupt nicht gerecht. Was er den Menschen sagt, die ihn um Wegweisung für ihr Leben bitten, ist denkbar schlicht: Sieh auf dich – auf das, was du hast; und sieh auf deinen Nächsten und auf das, was er nicht hat, was ihm fehlt; und dann – handle: gib von deinem Überfluss ab. Sieh auf die Macht, die du hast und auf die Ohnmacht des anderen und dann – handle, indem du deine Macht, die dir durch dein Amt oder deine Waffen gegeben sind, nicht missbrauchst.
Will man die Weisungen des Johannes auf einen Nenner bringen, kommt man zu einem simplen Ergebnis: Euer Wunsch, einen neuen Weg mit Gott einzuschlagen, durch die Bußtaufe umzukehren und mit Gott neu anzufangen geht nicht, wenn ihr nicht den Menschen in Not neben euch seht und ihm zu Hilfe kommt. Wie die sozialkritischen Propheten aus dem Alten Testament – Amos, Jesaja und Jeremia und wie sie alle heißen – hält Johannes den Leuten in der Wüste das vor, was Jesus Christus später als das „Höchste Gebot“ benennen wird: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst« (5. Mose 6,5; 3. Mose 19,18).
Glaube ohne Verankerung im eigenen Handeln und ohne Auswirkungen im alltäglichen Leben – das geht nicht. Nur schöne Rituale begehen und irgendwelche spirituellen Übungen machen – das ist kein Glaube, der sich auf den Erzvater Abraham als Garanten berufen kann, das ist kein Glaube, der sich auf Jesus als den Christus als Garanten berufen kann.
Die Botschaft von Johannes ist so einfach, wie sie dann vielleicht doch schwierig in der Umsetzung ist: Es hört sich so einfach an und es erfordert doch etwas ganz Wichtiges: Es erfordert zunächst einmal den wachen Blick für den eigenen Reichtum und das Bewusstsein für die eigene Macht; und es erfordert dann, was womöglich schwieriger ist, den Blick auf die Armut und die Ohnmacht des anderen. Und schließlich erfordert es, aus beidem die richtigen Schlüsse zu ziehen. Um das gut hinzubekommen, braucht es immer wieder einmal einen Anstoß von außen.
Oft genug wird es eine exemplarische Zuwendung zum Nächsten sein: Wenn einer zwei Hemden hat und es sind zwei weitere da, die kein Hemd haben, kann er das eine übrige Hemd nur an den einen weitergeben. Er muss darauf vertrauen, dass jemand Viertes wieder zwei Hemden hat, um dem anderen ohne Hemd zu helfen. In viel größerem Maße ist das notwendig, wenn – wie in unserer heutigen Zeit – ganz viele Menschen ohne Hemd dastehen. Dann können Einzelne oft genug auch nur Einzelnen helfen: als Einzelperson, als eine Kirchengemeinde, die einer kleinen Gruppe hilft. Aber wir sind ja nicht alleine, sondern dürfen darauf vertrauen, dass auch andere abgeben und helfen.
Johannes hatte seine Hörer sehr direkt angesprochen: „Ihr Schlangenbrut!“ Es ist aber sicher nicht nötig, sich von der Kanzel beschimpfen zu lassen. Als Predigthörer möchte ich das nicht hören. Es führt bei mir und bei vielen anderen auch eher zur Verstockung als zur Offenheit. Und ich sage als derjenige auf der Kanzel auch gerne weiterhin und mit Überzeugung „Liebe Gemeinde!“ Lukas hat mit seinem Schlusssatz zu dieser Szene trotzdem nicht Unrecht, wenn er mahnende Wegweisung und Heilsverkündigung ganz eng zusammenstellt. Er schreibt: Und mit vielem andern mehr ermahnte Johannes das Volk und verkündigte ihm das Heil.
Die Umstände der Geburt Jesu, auf die wir uns auch mit diesem Sonntag vorbereiten, sind und bleiben immer eine solche Mahnung, die unlösbar mit unserem Heil verbunden ist, dem Heil, das uns mit Jesus Christus geschenkt ist. Amen.