Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Es gibt Geschichten in der Bibel, die kennen viele Menschen in- und auswendig. Seit frühesten Kindheitstagen im Kindergottesdienst oder in der Schule hat man diese Geschichten gehört. Sie gehören irgendwie dazu, als hätten wir sie selber erlebt. Wenn sie dann wieder einmal vorkommen, macht es wohl schon beim ersten Satz ‚klick‘ und wir haben die ganze Geschichte vor unserem inneren Auge. Wie schön, wenn biblische Geschichten so vertraut sind.
Manchmal ist das aber auch schwierig, weil wir ja meinen, schon alles zu wissen. Dann hören wir gar nicht mehr so genau hin, denn es ist ja eh schon alles klar. Und ehe wir es uns versehen, haben wir dieses oder jenes, vielleicht sogar das Wichtigste gar nicht wahrgekommen, eben weil wir die Fassung aus der eigenen Kinderbibel vor 30, vierzig oder sechzig Jahren im Kopf haben.
Das Gleichnis, das heute als Predigttext vorgesehen ist, ist so eine ganz, ganz bekannte Geschichte. Wir hören gleich das Gleichnis vom „Verlorenen Sohn“ aus dem Lukasevangelium, im 15. Kapitel. Damit wir aber nicht nur das hören, was wir eh schon wissen, bitte ich Sie, drei Fragen mitzunehmen und aus dem Gehörten für sich zu beantworten: 1. Wer ist in dem Gleichnis der „Verlorene Sohn“? 2. Wer wäre ich wohl in dieser Geschichte? und 3. Welche Überschrift würden Sie dieser Geschichte ingesamt geben?Hören wir jetzt also auf das, was uns Lukas im 15. Kapitel seines Evangeliums berichtet: Lukas 15,1-3.11b-32
Liebe Gemeinde!
Wer wäre ich wohl in dieser Geschichte? – Die Zuhörer, die Pharisäer und Schriftgelehrten damals in dem Streitgespräch mit Jesus, werden sich ganz schnell zugeordnet haben: Wir sind der ältere Bruder, der am Ende wohl zumindest nicht weiß, ob er sich ärgern oder freuen soll. Für uns heute ist es vielleicht nicht ganz so einfach, weil wir keine so konkrete Situation haben, in der wir von Jesus angesprochen werden. Das hat aber durchaus seine Vorteile, denn dann können wir ohne aufgewühlte Gefühle das Gleichnis betrachten. Also: Wer wäre ich wohl in dieser Geschichte?
Zuerst kommt der jüngere Sohn in den Blick: Freiheit und Erbe genießen, mit dem großen Absturz, wenn alles alle ist, Selbsterkenntnis, Erinnerung und Rückweg und Hoffnung auf Wiederaufnahme ins Haus des Vaters, ohne große Ansprüche. Solche Lebensläufe kann ich mir auch heute gut vorstellen: Mit Menschen, die auf ganz unterschiedlichen Punkten dieses Weges sind, die hoffen, wieder aufgenommen zu werden – in konkreten Familien aber auch im übertragenen Sinn in der Kirche: da haben Menschen im Überschwang des Lebens nach der Konfirmation oder nach der Trauung Gott „Auf Wiedersehen!“ oder auch „Auf Nimmer-Wiedersehen!“ gesagt, haben den Zusammenbruch ihres Lebens erlebt und hoffen auf einen neuen Anfang – auch in der Kirche.
Was mich bei dem jünger Sohn fasziniert – und das ist das stärkste Argument später für ein Gespräch mit dem älteren Bruder, das hoffentlich stattfindet: Der jüngere Bruder bleibt sich treu, als der Vater ihm entgegen geht, ja entgegen läuft, was ein Patriarch damals nie getan hätte; er bleibt sich treu und sagt seinen vorher schon formulierten Satz, mit dem er sich dem Vater unterwirft: „Vater, ich habe gesündigt gegen den Himmel und vor dir; ich bin hinfort nicht mehr wert, dass ich dein Sohn heiße.“ Das muss man erst einmal bringen: Diese Konsequenz, um das eigene Gesicht nicht zu verlieren. Wie einfach wäre es gewesen, darauf zu verzichten, als er den Vater voller Wiedersehensfreude auf sich zukommen sieht. Bin ich der jüngere Sohn? Möchte ich der wirklich sein?
Dann ist da der Vater, der den jüngeren Sohn wieder aufnimmt, der vor Freude vergisst, den älteren Sohn zu rufen und der dann zu diesem hinausgeht, um auch ihm die Hand entgegenzustrecken. In seiner Güte dem jüngeren Sohn gegenüber absolut vorbildlich, ebenso in seinem Werben um den älteren. Aber ein wenig schusselig zwischendrin, weil er den älteren Sohn nicht mit einbezieht? Auch für diese Person der Geschichte kann ich mir viele Familien vorstellen, die einen ehemals durchgebrannten Angehörigen wieder aufnehmen. Und wenn das mit der hier geschilderten Liebe ohne Vorbehalte geschieht: wunderbar!
Und auch hier kann ich mir eine Kirchengemeinde, die die Kirche als ganze repräsentiert, vorstellen: da werden Menschen wieder in die Gemeinde herein geholt, die sich davon gemacht hatten. Mit neuen Konzepten und neuen Methoden wird geworben und die neu oder wieder dazu gekommenen werden herzlich empfangen.
Wie schnell ist es dann auch nötig, dass diejenigen mit einbezogen werden, die über die Jahre hinweg die Last der Arbeit in der Gemeinde getragen haben. Sie sollen und dürfen nicht außen vor bleiben. Am Besten sollte gar nicht erst die Situation entstehen, in die der ältere Bruder gerät, als er nichtsahnend vom Feld kommt.
Er, der ältere Sohn, ist die dritte Identifikationsmöglichkeit. Wie schnell sich Geschwister untereinander die Zuwendung der Eltern missgönnen, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, das wissen wir alle. Bestimmt auch Gedanken der ältesten Geschwister: Was die Jüngere, der Jüngere alles schon darf, was ich mir an Freiheiten habe hart erarbeiten müssen! Und dann auch noch viel früher, als ich das durfte! Wie wichtig sind verständnisvolle Eltern, die das Gespräch suchen – ab Besten, bevor sich der andere zurückgesetzt fühlt.
Und auch der ältere Sohn ist in der Kirchengemeinde zu finden: Plötzlich passiert etwas im Gemeindehaus, plötzlich ist da Leben und Feiern und das Gemeindehaus ist nicht mehr so wie vorher: Sei es, dass die Jugendgruppe, die doch in den Keller gehört, eben dazu keine Lust mehr hatte und den Frauenhilfsraum umgeräumt und mit grellen Farben neu gestrichen hat; sei es, dass neue Gruppen ins Gemeindehaus einziehen und vieles ganz anders machen, als es die bisherigen Nutzer gehandhabt hatten. Vielleicht kommen auch neue Leute dazu, die dem Gottesdinest plötzlich ein anderes Gepräge geben, weil sie laut und kräftig „Amen!“ sagen, wenn es dran ist, die laut und kräftig mitsingen und dann auch noch entsprechende Lieder vom Pastor ausgesucht bekommen. Wie gehen dann diejenigen damit um, die bisher Gemeindearbeit gestaltet haben und den Gottesdienst mit getragen haben, wenn die Mitglieder des Presbyteriums auf sie zukommen, ihnen die Hände hinreichen und sagen: „Das ist und bleibt doch alles Euer. Es verändert sich nur. Kommt doch herein, seht, freut euch und feiert mit?“
Wer bin ich, wer sind wir im Gleichnis Jesu und in der Rahmenhandlung? Am Ende bleibt offen, ob der ältere Sohn mit hineingeht, um mit Vater und Bruder und dem Rest der Hausgemeinschaft zu feiern oder ob er bockig mit dem Fuß aufstampft und seinen Frust am nächstbesten Gegenstand auslässt. Jesus jedenfalls löst diese Geschichte nicht auf. Und das ist gut so. Denn so hält er denen, die ihm zuhören die eigene Entscheidung offen. Die Diskussion hatte sich ja daran entzündet, dass die Pharisäer und Schriftgelehrten Jesus Vorhaltungen über seinen Umgang mit Zöllnern und Sündern gemacht hatten. Zöllner und Sünder – das sind diejenigen, die mit dem jüngeren Sohn gleichzusetzen sind; die Pharisäer und Schriftgelehrten mit dem älteren Sohn. Und wir alle wissen: Wenn man jemandem, der schon auf Krawall gebürstet ist und kaum einem guten Argument zugänglich ist, auch noch vorschreiben wollte, wie er sich zu verhalten hat, dann kommt genau das Gegenteil heraus. Dann gehen die Schotten erst recht runter und die Situation ist nicht mehr zu retten.
Jesus lässt die Pharisäer und Schriftgelehrten aus dem Gleichnis ihre eigenen Schlüsse ziehen; und genau so sind wir eingeladen, unsere Schlüsse zu ziehen – je nachdem, in wem wir uns denn wiederfinden. Fest steht die Einladung des Vaters im Gleichnis, das Angebot Jesu in der Rahmenhandlung: Du bist nicht weniger wert als jener, im Gegenteil. Komm mit herein, feiere mit und freue Dich, dass der andere, dass die anderen ihren Weg zu mir, zu uns gefunden haben. Amen.