Predigt am 8. Sonntag nach Trinitatis 2020

Der Predigttext Johannes 9,1-7 wurde zuvor als Evangelium gelesen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde!
Wen nehmen Sie so im Vorübergehen wahr: Wenn Sie durch die Bäckerstraße in Minden laufen; wenn Sie in Porta durch den WEZ oder durch den Penny oder hier nebenan durch den Niedrigpreismarkt gehen; wenn Sie mit dem Auto durch unsere Stadt fahren und jemand an der Straße steht oder auf dem Bürgersteig entlanggeht? Ich selber weiß: Es passiert ganz schnell, dass ich in Gedanken überhaupt nicht darauf achte, wer mir da begegnen könnte. Und ein paar Stunden oder Tage später höre ich dann ein sehr enttäuschtes „Du hast mich ja gar nicht gesehen!“ Oder noch etwas schlimmer: „Der Pastor hat was gegen mich, der grüßt mich gar nicht!“ Wie gesagt: Es passiert ganz schnell und, ich glaube, es passiert uns allen.
Bei Jesus ist es anders. Auch nach einer eher brenzligen Situation nimmt Jesus die Menschen um sich herum sehr genau und bewusst wahr. Er sieht und führt damit eine Tradition Gottes aus dem Alten Testament fort: „Du bist ein Gott, der mich sieht!“ sagt Hagar, die von Abraham verstoßene und geflohene Sklavin.

Jesus sieht – und er sieht einen Menschen. Und es ist ganz wichtig, das so festzuhalten. Denn der, den er sieht, ist zu allererst und voll und ganz Mensch. Er hat sicherlich seine Besonderheit, dieser Mensch, aber er ist – wie wir alle – zuallererst und vollkommen Mensch. Erst ergänzend wird gesagt, dass er von Geburt an blind ist. Um es etwas allgemeiner zufassen: Er hat eine Behinderung, ist sicherlich in vielen Bereichen seines Lebens eingeschränkt. Das nimmt ihm aber nichts von seinem vollen Menschsein. Es ist kein Defizit. Auch wir heute müssen uns das immer wieder sagen lassen.

Blind sein zu Jesu Zeiten war eine ganz schwierige Situation. Die Lebensumstände waren schwierig. Es war eine Krankheit, die damals nur durch Gott und damit nur durch ein Wunder geheilt werden konnte. Dazu kommt dann noch, dass in der damaligen Gesellschaft oft genug ein solches Schicksal als Folge von Schuld und Sünde angesehen wurde. Die Frage der Jünger zeigt es deutlich: „Wer hat gesündigt – er oder seine Eltern?“ Und machen wir uns nichts vor – solche Äußerungen gibt es auch in der christlichen Kirche bis heute: Behinderung als Strafe Gottes. Manche Leute wissen anscheinend ganz genau, wie Gott tickt.
Jesus schiebt diesem ganzen Gerede einen Riegel vor, wie er das an manchen anderen Stellen auch schon getan hat. Niemand ist schuld; Gott straft niemanden so für Verfehlungen in seinem Leben oder in dem der Eltern. Auch das müssen wir heute uns immer wieder sagen lassen.

Niemand also ist schuld an dieser Behinderung. Erinnern wir uns: Jesus sieht zuallererst den Menschen. Für ihn ist klar: Auch von diesem Blindgeborenen gilt, was in der Schöpfungsgeschichte gesagt ist: „Siehe, es war sehr gut.“ Und Jesu setzt noch eins drauf: Gottes Werke sollen gerade an diesem Blinden offenbar, also sichtbar werden! Weil wir wissen, wie die Geschichte weiter geht: mit dem Wunder, das Jesus wirkt, sodass der Mensch wieder sehen kann – weil wir das wissen, sind wir ganz schnell dabei und sagen: Genau, das Wunder zeigt uns die Werke Gottes. Aber davon steht an dieser Stelle im biblischen Text noch nichts. Es steht da auch nicht, dass Johannes berichtet: „Jesus wusste aber schon, was er tun wollte.“ Wie an anderer Stelle scheint das Wunder nicht das Wichtigste zu sein. Und in dieser Situation bleibt es zunächst offen, was die Werke Gottes wohl sein werden.

Diese Offenheit lenkt meinen Blick erneut in unsere heutige Zeit und erinnert mich daran, dass wohl an jedem Menschen, den wir in unserem Leben treffen, die Werke Gottes sichtbar werden können. Das können Menschen sein, die wie in dieser biblischen Geschichte mit körperlichen Einschränkungen in ihrem Leben zurecht kommen müssen; das können aber auch ganz andere Menschen sein, von denen ich das gar nicht erwartet hätte – Menschen, die jede und jeder für sich so ihre Eigenarten haben – wie ich und wie alle anderen auch. Gott lässt seine Werke an den Menschen sichtbar werden, die er sich aussucht und nicht an denen, die wir im vorschlagen würden. Auch wir heute müssen uns das immer wieder sagen lassen.

Und dann nimmt Jesus seine Jünger in die Pflicht: „Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat!“ Das „Wir“ steht da garantiert nicht zufällig so betont am Anfang des 4. Verses und nirgendwo sonst in den ganzen 2 Kapiteln Johannes 9 und 10. Nicht Jesus alleine wird es mit seinen göttlichen Kräften richten. Jesus will auch kein lavierendes „Ach, wir sollten mal dieses oder jenes tun.“, bei dem man vorher schon weiß, dass alles im Sand verlaufen wird. Es gilt für uns alle: Anpacken und das Nötige, das Lebenfördernde tun: wo Not am Menschen ist. Das steht sprichwörtlich unter einem guten Stern: „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt!“ sagt Jesus.

Denn es könnte auch ganz anders sein, sagt Jesus: „Es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann.“ Und hier bekommt die Frage nach der Sünde der Eltern doch noch einmal eine für unsere Gegenwart besondere Bedeutung, aber eben nicht als Strafe Gottes: Die Vorstellung, dass Kinder die Haftung für die Sünden der Eltern übernehmen müssen, gibt es oft in der Bibel. Und wir haben in unserem 21. Jahrhundert mit allen Fragen rund um Corona, der Frage nach der Genetik und vor allem der Klimafrage eine Ahnung davon, was dieser Satz bedeuten kann: „Es kommt die Nacht, in der niemand wirken kann.“ Gerade wir heute müssen uns das immer wieder sagen lassen. Sorgen wir dafür, dass Jesus in dieser Welt präsent ist und bleibt und wir handeln können.

Und dann kommt schließlich auch noch das Wunder, wenn Jesus den Blindgeborenen heilt. Daran entzündet sich im weiteren Verlauf der Geschichte der Ärger von manchen Leuten, weil Jesus einen Brei oder Teig macht, den er dem Blinden auf die Augen streicht; aber Teig oder Brei machen ist ja am Sabbat verboten. Und das Wunder geschieht, als Jesus gar nicht dabei ist: am Teich Siloah. Mir ist das Handgreifliche und Erdige wichtig, wenn Jesus dem Blinden diesen Brei auf die Augen streicht: Es erinnert an den 2. Schöpfungsbericht, in dem Gott den Menschen aus Erde formt und ihm den Atem des Lebens einhaucht.

Entscheidend aber ist doch, dass der vorher Blinde am Ende seinen Glauben bekennt. Er sprach: „Herr, ich glaube.“ Und er betete Jesus an. Vers 38. Er hat in Jesus Christus zu Gott gefunden und setzt sein Vertrauen, seinen Glauben auf diesen Jesus. Aber das gehört leider nicht mehr zum offiziellen Predigttext.

Aber wir sollen und können das auch: Unser Vertrauen auf diesen Jesus setzten und mit unserem Leben und Handeln dafür sorgen, dass Jesus in dieser Welt präsent bleibt; dass er so das Licht dieser Welt bleibt! Indem wir wie Jesus auch im Vorübergehen das Elend wahrnehmen, das da ist, indem wir anpacken und Licht in die Sache bringen. Indem wir nicht wie die Jünger zuerst nach Schuld und Sünde fragen, sondern indem wir Verantwortung übernehmen. Unser Ansporn dabei ist Jesus Christus, das Licht der Welt. Auch das lassen wir uns heute wieder sagen und handeln. Amen.

Vielen Dank an Harald Schröter-Wittke für seine inspirierende und berührende Meditation in den Göttinger Predigtmeditationen (Gött. Predigtmed. 74, S. 384-390).

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