
Lesung des Predigttextes 1. Mose 50,15-21 vor der Predigt
Liebe Gemeinde!
Wenn etwas zu Ende geht, fragen sich Menschen, wie es weiter geht. Ein absolutes Ende kann sich niemand so wirklich vorstellen und Redewendungen wie „Kopfhoch, das Leben geht weiter!“ sprechen eine deutliche Sprache. Selbst am Ende eines Menschenlebens geht das Leben zumindest für die anderen weiter. Unter welchen Vorzeichen das Leben weiter geht, ist allerdings nicht so sicher. Das müssen auch die Brüder von Joseph gespürt haben, als ihr Vater gestorben war und damit der Garant für ihr Wohlergehen, denn dass Joseph nichts gegen seinen Vater tun würde, war immer klar gewesen. Aber nun?
Ja, sie hatten ihren Bruder aus Neid in die Sklaverei verkauft, und Joseph war durch seine Traumdeutungen zum höchsten Beamten des Pharao aufgestiegen, er hatte dafür gesorgt, dass nicht nur die Ägypter, sondern auch viele andere Menschen vom Hungertod verschont geblieben waren, er hatte sie alle – den Vater und alle Brüder und ihre Familien nach Ägypten geholt und ihnen ein gutes Leben ermöglicht. Aber nun, nachdem der Vater tot war, fühlten sie sich nicht mehr sicher. Irgendwie nagte das Gewissen an ihnen: „Steht unsere Schuld doch noch zwischen uns und unserem Bruder?“ Die Angst ist groß; so groß, dass die Brüder sogar ihren verstorbenen Vater zu Hilfe nehmen, um bei Joseph um gutes Wetter zu bitten.
Und die Frage ist bis heute aktuell geblieben: Bleibt das Böse, das wir tun – ob gewollt oder nicht – bleibt die Schuld, die wir auf uns laden, bestehen? Bleibt sie am Ende unseres Lebens auch zwischen Gott und uns stehen?
Joseph scheint mit allem gerechnet zu haben, nur nicht mit dieser Angst seiner Brüder. Aus seiner Sicht ist die ganze Geschichte ja gut ausgegangen – bei allen Tiefen, bei allen Dunkelheiten, die er in der Zisterne und im Gefängnis erleben musste. Sind die Schrecken dieser Erlebnisse bei Joseph verblasst? Wohl kaum. Aber Joseph kann rückblickend hinter allem die Handschrift Gottes sehen, der alles zum Guten gewendet hat.
Es ist von ganz großer Bedeutung, wer dieses: „Es war böse gedacht, aber Gott hat es gut gemacht!“ sagt. „Ich doch halb so schlimm gewesen und gut ausgegangen!“ So etwas aus dem Mund der Brüder wäre die Verharmlosung der Schrecken, die Joseph erdulden musste, und es würde das Böse relativieren und damit das Opfer des Bösen um sein Recht und seine Würde bringen.
Aber wenn Joseph das sagt, hat es einen ehrlichen und wahrhaftigen Klang. Von ihm gesprochen bleibt das Böse böse, wird nicht relativiert. Sein „Es war böse gedacht, aber Gott hat es gut gemacht!“ hebt das Böse auf eine andere Ebene, die ihm als dem Opfer des Bösen seine Würde lässt. Er als das Opfer des Bösen hat das Recht, so auf das Böse zu sehen und es zu beurteilen, nicht seine Brüder, die das Bösen verursacht haben.
Manches aus unserer gegenwärtigen Welt kann ich mir vorstellen, was ähnlich zu betrachten ist: Ich denke an die Zeit der Coronapandemie, die für viele Probleme und ganz große Nöte gesorgt hat, die Existenzen vernichtet und die zu Krankheit und Tod geführt hat; aus der heraus sich aber auch trotz allem anderen manches Positive entwickelt hat: neue Wege in der medizinischen Forschung, eine neue gesellschaftliche und kirchliche Sicht auf die Möglichkeiten digitaler Medien. Aber niemand hat das Recht, solches in den Himmel zu heben, ohne zumindest der Opfer der Pandemie zu gedenken und Lösungen und Hilfen für diejenigen zu finden, die die Last der Pandemie getragen haben und die inzwischen schon fast wieder vergessen sind.
Ich denke an das Gute, an den Reichtum, an das, was in Deutschland nach dem Ende der Nazidiktatur gewachsen ist, das aber nur dann gut genannt werden kann, wenn das Böse ebenso benannt und erinnert wird. Wer die Nazidiktatur zum Fliegenschiss der Geschichte relativiert und damit die Opfer dieser Gewaltherrschaft missachtet und verhöhnt, hat kein Recht zu sagen, dass aus Bösem Gutes erwachsen ist.
Das Böse muss als Böses benannt werden, so wie Joseph das tut. Er lässt seine Brüder nicht aus der Verantwortung für ihr Tun und Lassen. Aber er sorgt im Vertrauen auf Gottes Handeln dafür, dass das Böse nicht mehr zwischen ihm und seinen Brüdern steht. Er – Joseph, das Opfer ihrer Bosheit – darf das.
„Gott wollte tun, was heute Wirklichkeit wird: ein großes Volk am Leben erhalten. Fürchtet euch nicht.“ Die Worte Josephs lesen sich dabei nicht nur wie eine Zusammenfassung seines Leidensweges, der zu einem Weg des Lebens wurde. Fast möchte man diese Worte als deutenden Blick auf den Weg Jesu sehen: Denn Jesus ist seinen Weg durch Kreuz und Tod hin zur Auferstehung gegangen, damit auch über ihn am Ende gesagt werden kann: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, um die Welt zu richten, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“
Jesus Christus, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt trägt, wie es Johannes der Täufer sagt und wie wir es in der Abendmahlsliturgie bekennen; Jesus, das Opfer unserer Sünde, spricht uns frei von unserer Schuld, damit sie nicht mehr zwischen Gott und uns und damit auch nicht mehr zwischen uns stehen muss. Sein Trost für uns ist der Trost Jospehs für seine Brüder: „Fürchtet euch nicht!“ Amen.