Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Schwestern und Brüder in Christus!
Was tun Schülerinnen und Schüler – und manchmal auch Menschen, die innerlich so wie Schüler geblieben sind – wenn sie etwas ganz bestimmt behalten wollen? – Es ist ganz einfach: Sie nehmen einen Stift und schreiben sich das zu Merkende in die Handfläche. Das hat verschiedene Vorteile: Zum einen ist es nach außen kaum sichtbar. So muss man keine Sorge haben, dass sich jemand anderes über die beschmierten Hände mokiert: Lehrer oder Eltern, die mit dieser praktischen Memotechnik nichts anzufangen wissen und sie nur als Schmiererei ansehen würden. Zum anderen hat man selbst das, was man da aufgeschrieben hat, ganz oft vor Augen, denn die Innenseiten der Hände sind im Normalfall zu einem selbst gedreht. So wird man davor bewahrt, das so Wichtige zu übersehen und schlimmsten Falls zu vergessen: Wichtige Informationen wie Telefonnummern, eMail- und sonstige Adressen oder Einkaufslisten werden in die Hand geschrieben. Eben alle Dinge, die man nicht vergessen möchte. Schließlich kann man für sich in Anspruch nehmen, dass auch schon Gott diese Memotechnik angewendet hat. Und der ist ja über alle Zweifel erhaben. Und bei Gott, bei dem ja so oft alles eine Nummer größer – oder gegebenenfalls kleiner – ist als gewöhnlich, wird nicht irgendetwas in die Hand geschrieben, sondern sein Volk; genauer gesagt wird es sogar in die Hand gezeichnet, damit Gott über sein Volk und dessen Situation immer im Bild ist.
Ja, so heißt es im Buch des Propheten Jesaja, im 49. Kapitel: „Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.“
Warum aber ist es so wichtig, dass Gott sein Volk immer vor Augen hat und es ganz bestimmt nicht vergessen soll? Der Nachsatz gibt einen Hinweis: Die Mauern – und gemeint sind die Mauern Jerusalems – hat Gott damit immer vor Augen, die zerstörten und niedergerissenen Mauern, die davon zeugen, dass Jerusalem zerstört und seiner Einwohner beraubt ist und der Tempel in Schutt und Asche liegt
„Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.“ Das ist die Antwort Gottes durch den Propheten auf den Schrei der Verzweiflung, der zwei Verse vorher laut geworden war: „Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ Wir alle haben wohl das Bild von Gottes Volk vor Augen, das den Krieg verloren hatte und in die Gefangenschaft geführt worden war; das seinen Glauben zu verlieren drohte, als die Vorstellung, dass Gott Jerusalem gegen jeden Gegner bestehen lassen würde, zerbrochen und in Schutt und Asche zerfallen war. Der Glaube an Gott als den, der, wenn auch im letzten Moment, doch noch alles zum Guten wenden würde – dieser Glaube war ebenso zerbrochen, wie die Mauern um Jerusalem unter dem Ansturm der Babylonier. Gottes Volk stand vor der Herausforderung, Gott auch als den verborgenen Gott zu erkennen; als den, der da ist, obwohl er nicht rettend eingreift und alles so regelt, wie sie das gerne gehabt hätten.
„Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ – Dieser Satz stammt aus dem Gefühl der Verlassenheit, das das Volk Gottes in der Verbannung in Babylon ergriffen hatte. Dieser Satz stammt aber auch von vielen Menschen, die ganz ähnliche Erfahrungen gemacht haben: dass die selbst aufgebauten Mauern der Lebensversicherungen dem Ansturm feindlicher Mächte nicht gewachsen waren; dass alles Vertrauen auf Hilfe enttäuscht wurde und jede Vorstellung von einer Zukunft in weite Ferne gerückt war. Ja, bis heute fragen Menschen mit den Worten Zions, mit den Worten von Gottes Volk danach: ob Gott sie den vergessen und verlassen hätte! Und bis heute bleibt es eine Herausforderung für den Glauben an Gott, dass dieser Gott nicht immer gleich handhabbar ist, dass er nicht so verfügbar ist, wenn man ihn zu brauchen meint; dass er unsichtbar ist.
„Der Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.“ – Das kann nicht sein, und trotzdem ist es Wirklichkeit. Es ist gefühlte Wirklichkeit für die Menschen, denen das sichtbare Elend jeglichen Ausblick auf Hoffnung genommen hat, die sich nicht mehr trösten lassen und vertrösten schon gar nicht. Es mögen Menschen sein, die heute wie in Syrien oder im Sudan ihren Frieden und ihre Heimat verloren haben; es mögen Menschen sein, die einen für sie wichtigen Menschen verloren haben. Diesen Menschen gibt Jesaja Worte, ihnen leiht er seine Stimme: die sich ins Bodenlose stürzen sehen, weil ihnen aller Boden unter den Füßen weggezogen wird; die trostlos sind, weil ihnen mit einem: „Es wird schon wieder!“ ebenso wenig geholfen ist wie mit einem Verweis auf ein besseres Leben im Jenseits. Das wäre nur billiger Trost und Vertröstung.
Und was hat Gott ihnen zu sagen? Denjenigen, die vor 2500 Jahren nach Trost und Zukunft gesucht haben, und denen, die es bis heute tun? Wie so oft erzählt Jesaja ein Bild, ja eine Bildergeschichte, die in moderner Fassung vielleicht so erzählt werden könnte:
Vor kurzem begegnet mir auf dem Weg zum Bäcker auf der Straße ein kleines, vielleicht vierjähriges Mädchen. Voller Tränen stand es da an diesem bitterkalten Morgen, aufgelöst, wirr die Haare, der Anorak offen. „Meine Mutter,“ schluchzte es, „ist nicht da!“ „Sie ist weg, sie ist nicht da.“ Weil unser Dorf nun nicht so groß ist, dass da so leicht an einem Morgen eine Mutter verloren gehen kann, war mir schon klar, dass sich die Situationen bald auflösen wird. Aber das zu sagen, hätte das kleine Mädchen nicht getröstet. Für sie war eine vertraute Welt durcheinander. Für sie war es die Wirklichkeit, in diesem Augenblick heimatlos, mutterlos, verloren in der Unwirtlichkeit zu sein. Und weil Kinder kein Zeitgefühl haben und sie nicht weiter vorausdenken als bis zum Tag nach übermorgen, waren die paar Minuten, seit die Mutter nicht da war, für das Kind wie eine Ewigkeit geworden. Deswegen weitete sich auch der Schrecken zum Entsetzen, weil es erstmals den Schauer vor der Leere, der Verlorenheit verspürte. Was war zu tun? Stehen bleiben, das Kind zu bitten, sich seine Kapuze aufzusetzen und zu versuchen, den Reißverschluss am Anorak zu schließen. Letzteres konnte es nicht, aber den Anorak zuzuhalten, das konnte es.
Und das half, die spürbare Wärme tat dem Mädchen gut, ein Gefühl von Behütung stellte sich bei ihm ein, und es konnte – nun nicht mehr unter Tränen – umherblicken, Ausschau halten, bis nach wenigen Minuten tatsächlich auch die Mutter zurückkam, die einfach einmal kurz, als das Mädchen im Spielen versunken war, zum Bäcker gegangen war.
Jesajas Worte an das sich von Gott verlassen wähnende Volk Israel sind etwas kürzer, dafür aber noch grundsätzlicher als es so eine Geschichte sein kann: „Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen.“
Kann eine Mutter ihr Kind verlassen? Auch wenn es immer wieder einzelne Meldungen darüber gibt, so ist die Antwort doch klar und eindeutig: Eine Mutter kann es nicht! Kann Gott sein Volk verlassen, das er doch so liebt? Auch wenn es immer wieder einzelne Meldungen darüber gibt, dass es so sein könnte, so ist die Antwort doch ebenso klar und eindeutig: Gott kann es nicht! Noch viel weniger, als eine Mutter ihr Kind verlassen könnte. Und das ist keine Aufhebung seiner Allmacht, wie es manche dann spitzfindig herausstellen würden, sondern es ist der Beweis seiner unerschöpflichen und unverbrauchbaren Liebe, die er zu seinem Volk hat. Und wie für das kleine Kind die Gegenwart und die Liebe der Mutter für einen Moment zwar nicht spürbar sind, aber immer bestehen bleibt, so darf sich auch Gottes Volk seiner bleibenden Gegenwart immer wieder neu sicher sein.
Für uns, die wir auch in diesem Jahr von Weihnachten her kommen, eröffnet sich mit dem Geschehen um die Geburt Jesu ein ganz besonderer Blick auf die Verzweiflungsschreie des Volkes Israel in der Babylonischen Gefangenschaft und der Menschen, die sich in ähnlichen Situationen wiederfinden. Denn mit der Geburt Jesu gibt Gott sich ein menschliches Gesicht, er kommt uns in unserer Welt nahe: nicht als handelndes Prinzip der Welt oder als unwiderstehliche aber unpersönliche Macht, sondern als Mensch zu den Menschen, als Kind zu Kindern eines himmlischen Vaters; als einer, der später am Kreuz eben diesen Ruf der Verlassenen auf den Lippen hat: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
So sehr sich Menschen verlassen fühlen mögen, gibt es doch keinen Ort, wo Gott in seiner Menschlichkeit nicht ist. Gott kommt in die Welt und alles Warten auf Klarheit und Nähe Gottes wird erfüllt, so wie wir es in der Schriftlesung aus dem Lukasevangelium gehört haben: Simeon und Hannah erfahren in der Begegnung mit dem Kind Jesus etwas von der lebensbejahenden und sinngebenden Nähe Gottes.
Und so ist Weihnachten viel, viel mehr als sich in der dunklen Jahreszeit ein paar schöne Tage zu machen, bis die Tage wieder länger werden und sich auf diese Weise die depressive Stimmung der langen und dunklen Wintertage von alleine verflüchtigt. Weihnachten geht ganz tief in unser Menschsein hinein, bis in jene Schichten, an die wir normalerweise gar nicht zu rühren wagen, denn wer beschäftigt sich schon gerne mit seiner Angst, verlassen zu sein und vor den Trümmern seiner Hoffnungen zu stehen? Weihnachten bringt durch seine Feierlichkeit und seine Strahlkraft die Antwort auf unsere Fragen nach der Verlassenheit, bevor wir uns diese Fragen gestellt haben. Und mit der Antwort im Herzen können wir uns auch trauen, diese Fragen an- und auszusprechen.
Auch Jesaja hat die Antwort vor die Frage nach der Gegenwart Gottes gestellt: „Der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden.“ Es ist schon geschehen. Und darum sollen sich nicht nur die Menschen aus Gottes Volk freuen. So umfassend Gottes Handeln ist, so um fassend ist auch die Freude darüber: „Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen!“
Die Weite des Himmels und der tragende Grund der Erde, die Berge mit ihren Gipfeln – auf ihre Weise erzählen auch sie von Gott und seiner Macht. Die Wirklichkeit Gottes, der Grund von Freiheit und Unendlichkeit, die Kraft, die Gewaltiges schafft, ist dort zu finden. Nicht dass Gott selbst Himmel oder Berg ist, aber beide erzählen von ihm. Das ist nicht einfach naive Rede. Jedem, der meint: der Himmel redet nicht, jedem, der das sagt, dem sage ich: Komm mit. Wir gehen und betrachten den klaren Sternenhimmel in der Nacht oder das unendliche Blau des Himmels am Tag. Und dann warten wir. Und dann werden wir sehen und hören. Und jedem der meint, dass die Berge stumm sind, den frage ich: Wer hat schon die geheime Handschrift entziffert, die Gott in die Kette der Gipfel eingeschrieben hat?
Und so öffnet sich uns mit dem Blick auf Weihnachten die tröstliche Weite der Botschaft, die Gott auch uns durch Jesaja als heutigen Predigttext überbringen lässt:
„Jauchzet, ihr Himmel; freue dich, Erde! Lobet, ihr Berge, mit Jauchzen! Denn der HERR hat sein Volk getröstet und erbarmt sich seiner Elenden. Zion aber sprach: Der HERR hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen.
Kann auch eine Frau ihr Kindlein vergessen, dass sie sich nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie seiner vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in die Hände habe ich dich gezeichnet; deine Mauern sind immerdar vor mir.“
So steht es aufgeschrieben im 49. Kapitel.
Und auch wir können uns in unsere Hand etwas einzeichnen, damit wir es nicht vergessen, sondern immer vor Augen haben: das Bild von Gottes Nähe im Kind in der Krippe und die Botschaft von seiner Nähe im gekreuzigten und auferstandenen Jesus Christus; und dieses Bild in unseren Händen ist etwas anderes, als es uns hinter die eigenen Ohren zu schreiben, denn da können wir es selber bestimmt nicht sehen und uns erinnern lassen.
Amen.
Die Geschichte vom kleinen Määdchen habe ich in einer Predigt von Heiko Naß gefunden: http://www.predigten.uni-goettingen.de/predigt.php?id=4702&kennung=20131229de; ebenso die Gedanken über die Berge und den Himmel, die ich in etwas veränderter Fassung übernommen habe. Vielen Dank!