Predigt am 1. Sonntag nach Trinitatis 2020

Brief an die westfälischen Gemeinden und Pfarrer von Präses Karl Koch vom 13. Juni 1945. Weitere Informationen zum 75-jährigen Bestehen der EKvW auf https://www.evangelisch-in-westfalen.de/kirche/unsere-geschichte/75-jahre-ekvw/

Der Predigttext aus Apostelgeschichte 4,32-37 wurde als Schriftlesung vorgetragen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.

Liebe Gemeinde!
Da wäre ich gerne mit dabei gewesen, denke ich: Damals in der Urgemeinde, wie sie uns Lukas in seiner Apostelgeschichte schildert: die Menge – wohlgemerkt – die große Menge der Gläubiggewordenen ein Herz und eine Seele. Und ein paar Handschriften in der frühesten Überlieferung der Apostelgeschichte und des Neuen Testamentes insgesamt aus dem 3. Jahrhundert setzen sogar noch eins drauf: „Es war kein Streit bei ihnen keinen Tag.“ Da möchte ich dabei gewesen sein, denke ich, denn so wünsche ich mir Kirche: in herzlicher Verbundenheit und ohne Streit und innere Kämpfe.

Aber dann trete ich innerlich einen Schritt zurück und frage mich: War es wirklich so? In der Erinnerung, im Rückblick verklärt sich ja manches und Lukas schreibt doch mit einigem zeitlichen Abstand. Warum muss Lukas den Joseph Barnabas so exemplarisch darstellen, dass es fast schon ein wenig peinlich wirkt? Brauchte es wirklich so einen Beweis durch einen, der in der Gemeinde so gut bekannt war – ein Levit aus Zypern? Und braucht es anschließend dann auch noch die Geschichte von Hananias und Saphira, die einen Teil des Geldes für einen verkauften Acker zurückhalten und deshalb beide vor den Aposteln tot zusammenbrechen? Dieses leuchtende und das folgende abschreckende Beispiel machen doch nur Druck; soll so Kirche sein?

Und indem ich diesen inneren Schritt zurücktrete, steigt auch noch eine andere Frage in mir auf: Möchte ich wirklich so eine Kirche? Ist eine Gemeinschaft, die einfach nur „ein Herz und eine Seele“ ist, nicht auch so etwas wie eine Blase, in der diese Gemeinschaft lebt und geradezu schwebt – irgendwie auf „Wolke sieben“? Das gleicht dann doch manchen Gruppen heutzutage in ihrer Internetblase, die gar nichts mehr von dem um sich herum und vom wirklichen Leben mitbekommen? Die bestätigen sich doch in ihren Meinungen immer nur selbst.

Trotzdem ist dieser Abschnitt aus der Apostelgeschichte ganz wichtig für die Gestalt der Kirche. Denn er stellt ein Grundprinzip dieser Urgemeinde und damit der Kirche seither und bis heute im Mittelpunkt: Die Apostel sorgten dafür, dass alle, die zur Gemeinde gehörten, das bekamen, was sie brauchten. Gerne wird diese Schilderung als urchristlicher Kommunismus bezeichnet. Aber Kommunismus gibt es erst seit dem späten 19. Jahrhundert, deshalb ist der Begriff falsch. Die „Gütergemeinschaft der ersten Christen“, wie die Lutherbibel den Abschnitt überschreibt, trifft es besser. Und die Art, wie diese Gemeinschaft organisiert wird, ist Gerechtigkeit in ihrer besten Form.

Denn es bekommt erstens nicht jeder das, was er will. Also geht es nicht darum, sich einfach nur die eigenen Wünsche zu erfüllen, sondern dass objektiv darauf gesehen wird, was jemand braucht. Es geht aber auch nicht darum, einfach allen in gleichen Teilen etwas zu geben. Denn die Lebenssituationen der einzelnen Gemeindeglieder sind damals ebenso unterschiedlich gewesen, wie sie es heute auch sind. Alle das Gleiche: Oft genug ist das für diejenigen, die gut dastehen, unnötig, und für diejenigen, die etwas brauchen, reicht es nicht zum Leben.

Das Bild auf der Rückseite des heutigen Programms mit den drei Menschen, die an einem hohen Zaun stehen, hinter dem ein Sportereignis läuft, sagt wie so oft mehr als Worte und macht deutlich, was biblische Gerechtigkeit meint. Die drei wollen zusehen, der Zaun ist aber für zwei von den dreien zu hoch, um drüber sehen zu können. Und sie haben drei Kisten dabei; jeder von den Dreien steht zuerst auf einer der Kisten: Der Längste von ihnen braucht sie eigentlich nicht; der Mittlere kann so über den Zaun sehen, der Kleinste aber hat keine Chance. Nach einiger Zeit verändern die drei die Kisten: Der Längste steht jetzt auf keiner mehr, der Mittlere steht weiterhin auf einer Kiste und der Kleinste steht auf zwei Kisten. Jetzt können alle das Spiel sehen.

Auch mit diesem Bild wird deutlich: Der Abschnitt aus der Apostelgeschichte beschreibt eine Kirche, die ein Abbild für das ist, was Gott für seine Kirche und die Menschen tut. Der Wochenspruch für diese Woche vom 1. Sonntag nach Trinitatis stellt das auch in besonderer Weise heraus. Das sagt Jesus: „Wer euch hört, der hört mich. Und wer euch verachtet, der verachtet mich.“ Und im Evangelium des Tages „vom reichen Mann und armem Lazarus“ erinnert Jesus an die Bedeutung von Mose und den Propheten, die Gottes Forderung nach Gerechtigkeit immer wieder neu nach vorne gebracht haben. Gott schafft Gerechtigkeit und in der Urgemeinde ist diese Gerechtigkeit Gottes unter den Menschen beispielhaft Wirklichkeit geworden.

Da möchte ich gerne dabei gewesen sein, denke ich mir dann irgendwie doch: Damals in der Urgemeinde, wie sie uns Lukas in seiner Apostelgeschichte schildert. Liebe Gemeinde, das Leben ist aber kein Ponyhof und kein „Wünsch dir was“. Das Leben ist das, was im „Hier und jetzt“ passiert oder nicht passiert. Und das, was Kirche Jesu Christi in dieser Gegenwart ist, entscheidet sich auch daran, wie wir alle zusammen heute, in dieser Gegenwart das Leben der Kirche gestalten.

Deshalb sehe ich auf diese Gegenwart und die Kirche, in der ich und in der wir zusammen heute leben: Ich sehe auf die Evangelische Kirche von Westfalen. Auch deshalb, weil unsere westfälische Kirche gestern gewissermaßen ihren 75. Geburtstag feiern konnte. Ohne große Feierlichkeiten – auch der Coronakrise geschuldet. Aber am 13. Juni 1945 hatte Präses Karl Koch in einem Brief an die Pfarrer und die Gemeinden in Westfalen die Bildung einer provisorischen Kirchenleitung für die zu gründende Evangelische Kirche von Westfalen bekanntgegeben. Mit dem Kriegsende und der Auflösung der preußischen Provinz Westfalen hatte auch die Kirchenprovinz Westfalen aufgehört zu bestehen. Ein radikaler Neuanfang war nötig: nicht mehr mit einem Konsistorium in Münster, also einer fast staatlichen Behörde, sondern mit einer echt unabhängigen Landeskirche.

Ich weiß nicht, welches Bild von Kirche Karl Koch damals vor Augen hatte. Er war nach der auch für die Kirche so schwierigen Zeit des Nationalsozialismus bestimmt kein Träumer, sondern ein Realist, der die Welt mit offenen Augen aber auch mit offenem Herzen sah. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass er sich einfach eine Kirche nach dem Motto „ein Herz und eine Seele“ vorgestellt hat. Und seither hat es in unserer Landeskirche wie in allen anderen Kirchen auch immer wieder heftige Diskussionen und manchmal auch Streit um den richtigen Weg dieser Landeskirche gegeben, immer ein Ringen um das, was Kirche Jesu Christi heute sein kann und wie sie aussehen soll.

Gott schafft Gerechtigkeit und in der Urgemeinde ist diese Gerechtigkeit Gottes unter den Menschen beispielhaft Wirklichkeit geworden. Dem eifern wir als Kirche heute immer noch nach – auch in der EKvW. Auch wir sind heute ein ähnlich bunter Haufen wie die Urgemeinde damals, die nach der Pfingstpredigt der Jünger ja aus Menschen aller Herren Länder zusammengerufen wurde. Hier in Ostwestfalen sieht man das außer bei der internationalen Gemeinde in Bad Oeynhausen vielleicht nicht so sehr, aber es ist schon faszinierend schön, aus wie vielen Nationalitäten Gemeindeglieder kommen, um zusammen Kirche zu sein; aus wie vielen unterschiedlichen Menschen unsere Evangelische Kirche von Westfalen besteht. Und soziales Engagement und gerechte Verteilung der Güter, die den Menschen geschenkt werden, gehören in dieser Kirche auch immer mit dazu.

Natürlich ist auch die Evangelische Kirche von Westfalen nicht der Himmel auf Erden und die Gemeinden in ihr sind mit der Urgemeinde in Jerusalem nicht zu vergleichen. Vieles ist bestimmt auch sehr verbesserungswürdig und verbesserungsbedürftig. Aber wir vertrauen darauf, dass auch in unserer Kirche und in unseren Gemeinden Gottes Geist in der Verkündigung der Frohen Botschaft ganz kräftig am Werk ist; dass die Botschaft der Apostel und Propheten von der Liebe Gottes zu den Menschen bei uns und auch durch uns sichtbar und spürbar, hörbar und erfahrbar wird.
Amen.

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