Konfiormationspredigt 2020

Gehalten bei den Konfirmationsgottesdiensten am 6. September 2020 in Holtrup und am 13. September 2020 in Möllbergen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Festgemeinde! Vor allem aber:
Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden!

„We shall overcome“ – wir haben das Lied vorhin bei eurem Einzug gehört: „We shall overcome, truth will make us free, Black and White together, we‘ll walk hand in hand, we shall live in peace.“ Wir werden überwinden; die Wahrheit macht uns frei, Schwarz und weiß zusammen, wir gehen Hand in Hand, wir werden in Frieden leben.“

„We shall overcome“ – ein Lied, das für eine ganze Generation zu einer Art Glaubensbekenntnis wurde. Es ist kein Glaubensbekenntnis, wie Ihr es auswendiggelernt habt und wie wir es gleich sprechen werden; auch kein Bekenntnis, wie die von Euch selbst geschriebenen, die mich sehr beeindruckt haben. Der entscheidende Unterschied ist, dass dieses Lied nicht etwas in der Vergangenheit beschreibt. Es ist ein Bekenntnis zu einer Vision von einem Leben in Frieden und Freiheit für alle Menschen; es ist ein Bekenntnis zur Zukunft.

Auch Martin Luther King, mit dem wir uns bei unserer Konfifreizeit intensiv beschäftigt haben, hatte so eine Vision für die Zukunft. Am 28. August 1963 – also fast auf den Tag genau vor 57 Jahren – hat er in Washington vor mehreren 100.000 Menschen seine so berühmte Rede „I have a Dream“ gehalten: über den Traum von einer gerechten und friedlichen Welt für das Leben seiner Kinder und Kindeskinder. Auch seine Rede ist ein Bekenntnis zur Zukunft.

Der Garant für diese Zukunft ist in dem Lied und für Martin Luther King jeweils Gott, auch wenn das Wort Gott im Lied und in den bekanntesten Passagen der Rede gar nicht vorkommt. Aber das Lied ist ein Gospel: die Haltung der Menschen, die das Lieb geschrieben und gesungen haben, ist untrennbar mit dem christlichen Glauben verbunden. Und das Fundament auf dem Martin Luther King seinen Weg gegangen ist, das ist das Wissen, dass in Jesus Christus alle Menschen gleich sind, und dass er in seinem ganzen Leben von Gott getragen ist – von diesem Gott, den auch wir in unserem Glaubensbekenntnis bekennen. Diese Glaubensgewissheit hat Martin Luther King den Weg gehen lassen, den er gegangen ist: den Weg der Gewaltlosigkeit bis zu seiner Ermordung 1968.

„We shall overcome – Wir werden überwinden“. Damals – vor gut 40 Jahren – ging es in Amerika um das gleichberechtigte Zusammenleben von Menschen schwarzer und weißer Hautfarbe. Der so unendlich große Riss in der damaligen Gesellschaft sollte überwunden werden. – Wenn ich mich heute umsehe, gibt es noch oder wieder so unendlich viele Situationen auf unserer Welt, wo es so dringend notwendig ist, dass Spaltungen und Hass, dass Ungerechtigkeit und Gewalt überwunden werden. Wenn ich an Martin Luther Kind denke, steht mir die heutige Situation in Amerika vor Augen, wo ein Land so zerrissen ist, wie wir uns das kaum vorstellen können. Ich denke aber auch an die Situation in Israel und Palästina oder an Länder wie Syrien, den Irak oder Afghanistan, wo sich unterschiedliche Volksgruppen oder Anhänger von verschiedenen Religionsgemeinschaften so unversöhnlich gegenüberstehen. Ich denke auch an unser Land, in dem so vieles unversöhnt erscheint: auf der großen politischen Bühne, in den ganz kleinen Gemeinschaften und in dem, was dazwischen liegt; ich denke aber auch an christliche Gruppen, die sich gegenseitig das Christsein absprechen.

Menschen müssen bestimmt nicht immer einer Meinung sein – das meine ich nicht. Aber Menschen müssen einander gelten lassen; sie müssen die Würde der jeweils anderen achten. Sie müssen in ihrem Gegenüber immer auch den Menschen sehen, der von Gott ebenso geliebt wird, wie man selbst.

An dieser Stelle kommt der Evangelist Johannes ins Spiel, aus dessen Brief Fynn uns einen Abschnitt gelesen hat. Auch seine Zeilen sind zuerst ein Bekenntnis: „Das Einzigartige an der Liebe Gottes ist: Nicht wir haben Gott geliebt, sondern er hat uns seine Liebe geschenkt.“ Gott fordert nicht zuallererst, um dann zu entscheiden, ob ihm das reicht, was wir ihm zu bieten haben. So ist Gott nicht. Er geht in Vorleistung und er schenkt uns seine Liebe – sichtbar in Jesus Christus geworden. In ihm hat sich Gott ein menschliches Gesicht gegeben.

Für Johannes ist aber auch klar: Dieses Bekenntnis hat auch Auswirkungen auf das Leben. Es ist wie der Traum von Martin Luther King vom Leben in Gerechtigkeit und wie das Lied „We shall overcome“ ein Bekenntnis zur Zukunft: „Meine Freunde, wenn uns Gott so sehr liebt, dann müssen auch wir einander lieben.“

Einander lieb haben, weil Gott uns zuerst seine Liebe geschenkt hat. Ich glaube, dies ist der Schlüssel zu dem, was Martin Luther King angetrieben hat, dass er seinen Weg der Gewaltlosigkeit und der Versöhnung gehen konnte, dass er Gewalt und Hass überwinden konnte.

„We shall overcome“ – das Bekenntnis zur Zukunft bleibt eine lebenslange Aufgabe – so wie christlicher Glaube auf seine Weise eine lebenslange Aufgabe ist. „Meine Freunde, wenn uns Gott so sehr liebt, dann müssen auch wir einander lieben.“ So schreibt Johannes.

Es wäre ja sehr schön, wenn man sagen könnte: „Jetzt bin ich konfirmiert, jetzt habe ich für den Rest meines Lebens den direkten Draht zu Gott.“ Ich kann da erst einmal nur für mich sagen: Im Lauf meines Lebens ist mir immer wieder klar geworden, wie wichtig es ist, auch selber etwas in die Beziehung zu Gott zu investieren.

Und in die Beziehung zu Gott investieren, das heißt für Johannes wie schon für Jesus: in die Beziehung zu den Menschen neben mir zu investieren: „Indem wir einander lieben, bleibt Gott in uns und seine Liebe erfüllt uns ganz.“ So schreibt es Johannes – Jesus sagt: Gott lieben und den Nächsten wie sich selbst – das ist das höchste Gebot, das ist der Weg zum Leben. Das Evangelium des Tages vom „Barmherzigen Samariter“ grüßt zur Konfirmation.

„We shall overcome“ – Es ist die große Vision für die Zukunft mit einem Leben in Würde und Frieden, in Gerechtigkeit und Freiheit für alle Menschen. Welche Visionen habt Ihr für Eure Zukunft? Heute, am Tag der Konfirmation ist das für die meisten von Euch wahrscheinlich noch gar nicht so klar. Manche Ideen habt Ihr auf der Konfirmandenfreizeit ja formuliert, sie sind in diesen Gottesdienst eingeflossen: als Psalm am Anfang, als Fürbittengebet nachher zum Ende hin.

Ich wünsche und hoffe, dass wir alle – und ganz besonders Ihr, die Konfirmandinnen und Konfirmanden, Euren Weg des Lebens auf dem Fundament gehen könnt, das auch Martin Luther King getragen hat: auf dem Fundament der Liebe Gottes, die in Jesus Christus sichtbar geworden ist. Amen.

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis (30. August)

Der Predigttext 1. Korinther 3,9-17 wurde zuvor als Evangelium gelesen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde!

Das Bild gehört für mich mit zu den eindrücklichsten Momenten, die ich auf der Ostpreußenreise vor 13 Jahren mit meiner Frau und meiner Tante erlebt habe: Mitten in Kaliningrad, dem alten Königsberg, erhob sich ein massives Gebäude, über 15 Stockwerke hoch, ein riesiger Klotz aus Beton. Es handelte sich um das Haus der Sowjets, das Parteigebäude, wenn man so will: der Tempel des Sozialismus – ganz beherrschend erhob es sich über den Dächern der Innenstadt auf einem Hügel mit den Ruinen des Stadtschlosses, nur ein paar hundert Meter vom Dom entfernt. Was man aber auch schon auf den ersten Blick sah: Dieses Gebäude war eine Bauruine, es war tot – ein Haus ohne Leben, das da nun einfach dastand. Irgendwer hatte dieses Gebäude einmal geplant, es war in Auftrag gegeben worden und dann hatte man es eben gebaut. Was dann aber auch immer der Grund gewesen war: Seinen Zweck, sein Ziel hat es nicht erreicht, weil die tragende Idee nicht mehr vorhanden war.

Vielleicht hatte Paulus so eine Schreckensvision von der Gemeinde in Korinth vor Augen, als er seinen 1. Brief an die Gemeinde geschrieben hat: Trotz aller guten Planungen und trotz allen guten Willens und aller Energie, die er in die Gründung seiner Gemeinde gesteckt hatte, befürchtete er, dass am Ende die christliche Gemeinde in Korinth so eine Bauruine sein könnte. Und deshalb war es ihm ein so großes Anliegen, den Korinthern die Wichtigkeit und den Wert ihrer Gemeinde deutlich zu machen.

Es gibt allerdings einen entscheidenden Unterschied zwischen dem ‚Haus der Sowjets‘ in Kaliningrad und der Gemeinde in Korinth: Bei dem Parteitempel handelt es sich um ein reales Gebäude; bei der korinthischen Gemeinde handelt es sich um die Gemeinschaft von Menschen einer christliche Gemeinde, also um einen Tempel aus lebendigen Steinen. Denn Paulus schreibt: Ihr seid dieser heilige Tempel Gottes!

Trotzdem sah Paulus die Gefahr, vor der die christliche Kirche mit ihren vielen einzelnen Gemeinden auch heute noch steht: dass da etwas mit viel Freude, ja Enthusiasmus und noch mehr Engagement begonnen wird, was dann aber als tote Bauruine endet. Und deshalb schreibt er seinen leidenschaftlichen Appell an die Korinther.

Die Gemeinde, die Gemeinschaft der Menschen, die im 1. Petrusbrief ‚lebendige Steine‘ genannt werden, bilden das Haus Gottes, sein Bauwerk. Und Paulus ist derjenige, der – von Gott beauftragt – das Wichtigste tun darf: Er soll das Fundament legen. Dabei ist ihm bewusst, alles weitere kann nur gelingen und vor allem auch Bestand haben, wenn dieser Moment des Hausbaus verantwortungsvoll und präzise gemacht ist. Je größer das Haus werden soll, desto tiefer und breiter muss das Fundament gegründet sein. Wir können das heute in jeder Stadt sehen, wo große Häuser, gar Wolkenkratzer gebaut werden.

Das Fundament der christlichen Gemeinde in Korinth und auch der weltweiten Kirche insgesamt, so schildert es Paulus, ist das Beste, das man für den Tempel Gottes nehmen kann, denn es ist keine Spekulation über Ungewisses, es ist kein Versprechen, das man abgibt, ohne zu wissen, ob man es einhalten kann. Das Fundament der christlichen Gemeinde ist Jesus Christus, der Gottessohn, der den Menschen die Liebe Gottes gebracht hat, der sich sogar stärker als der Tod erwiesen hat, und der sich so als eben der tragfähige Grund erwiesen hat auf den Menschen getrost ihren Glauben und ihre Gemeinde bauen können. Das ist es, was Paulus in Korinth und damit für die ganze Kirche getan hat.

Natürlich ist ihm auch wichtig, wie das Gebäude nun aussehen soll, das auf seinem Fundament entstehen soll; aber da ist er nicht mehr einzige Architekt. Viele bauen daran mit, viele bringen ihre Ideen ein, um aus dem Haus der Gemeinde wirklich auch einen Tempel werden zu lassen – also einen Ort, der der Verehrung Gottes dient, und der nicht nur ein tolles Haus für eine potente Gruppe von irgendwelchen Leuten ist.

So geht es dann um die Fragen, wie denn die Architektur des Gebäudes im Großen sein soll modern-funktional oder barock-üppig? Himmelsstrebend-lichtdurchflutet gotisch oder erdverbunden-burgartig romanisch? Und wie soll dann die Ausstattung im Kleinen aussehen? Auch da gibt es ja so unendlich viele Möglichkeiten: Soll die Ausstattung in allen Zimmern einheitlich sein: gleiche Musik, gleiche Sprache, gleiches Dies und gleiches Das? Oder sollen die einzelnen Zimmer doch besser unterschiedlich ausgestattet sein?

Viele Themen, die Paulus in seinen Briefen behandelt, spiegeln die Fragen seiner Zeit – im Großen, was die ganze Kirche betrifft, und im Kleinen, was jeweils die einzelnen paulinischen Gemeinden in Korinth, Ephesus oder Rom betrifft: Wie sich Gemeinde gestalten soll; was wichtig ist und auf das Fundament Jesus Christus passt: Wer leitet wie die Gemeinde, wie werden Gottesdienst und Abendmahl gefeiert, wie geht die Gemeinde mit Menschen um, die Fehler machen und schuldig werden.

Wir können uns dann gerne fragen, welches unsere Fragen heute sind – wie wir uns Kirche vorstellen: in der weltweiten Gemeinschaft der Ökumene von evangelisch bis orthodox, von katholisch bis pfingstlerisch; in der bunten Vielfalt der Ortsgemeinden. Für uns in diesem Teil der Welt – in Europa und vor allem auch in Deutschland – ist es wohl besonders wichtig, zu sehen, wie wir angesichts von schwindender Kirchlichkeit mit hohen Austrittszahlen und einem bei vielen angestaubten Image vor Kirche die Freude des Evangeliums und seine tragende Kraft neu erfahrbar machen können.

Und das ist keine Sache von einigen wenigen. Alle bauen an der Kirche, dem Tempel Gottes weiter. Und für Paulus ist es dabei ganz wichtig, dass alle, die an der Gemeinde mit bauen, das auch in großer Verantwortung tun. Sie sollen, schreibt er, ‚sorgfältig‘ mitarbeiten. Und es kommt auf alle an; alle sind verantwortlich.

Dabei macht es für ihn keinen Unterschied, aus welchem Material die Gemeinde gebaut wird: Er nennt wie in einem Gleichnis Gold und Silber, kostbare Steine auf der einen Seite, Holz, Schilf oder Stroh auf der anderen Seite. Wer will, kann bis heute darin den Gegensatz von einer prunkvoll strahlenden Kirche hier und einer Kirche der Armen dort sehen. Aber damit werden wir Paulus wohl nicht gerecht.

Ein – vielleicht das einzige Kriterium bei der Suche nach richtigen Wegen wird sein: Dient das, was geschieht, nur einem Ego, das sich selbst in den Mittelpunkt stellen will, oder dient es wirklich dem Aufbau der Gemeinde, dem Miteinander unter dem Wort, der Gemeinschaft im Heiligen Geist.

Entscheidend ist für Paulus eben nicht, welche vordergründige Qualität die Baustoffe haben – also die Menschen, die zur Gemeinde gehören. Wenn Paulus in unserem Abschnitt von der Bewährung des Baues der Gemeinde im Feuer spricht, setzt er voraus, dass Schilf und Stroh bei einer guten Bauweise ebenso gut im Feuer bestehen können wie Edelsteine und Gold. Für ihn zählt alleine die Verbindung zum Fundament.

Denn – würde Paulus heute vielleicht sagen – nicht wir tragen das Fundament, sondern das Fundament – Jesus Christus – trägt uns: Jesus hat mit seinen Heilungen das Leben von Menschen zum Guten verwandelt: Er hat dem Tauben das Gehör und die Sprache gegeben und dem Blinden das Augenlicht, er hat die verkrümmte Frau aufgerichtet. – Texte und Geschichten, die ebenfalls dem heutigen Sonntag zugeordnet sind.

Von Jesus Christus her, diesem verwandelnden Fundament, ist die Gemeinde als Tempel Gottes aufgebaut, und sie wird von seinem Heiligen Geist durchweht – also von der Kraft Gottes, die uns mit Freude und Zuversicht Kirche sein lässt. Und wir – wir alle – sind Mitarbeiter, sind gerufen, an diesem Tempel Gottes, dem Haus zur Verehrung Gottes mitzubauen. Lasst es uns tun! Amen.

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis (16. August)

Der Predigttext Römer 11,25-32 wurde zuvor als Evangelium gelesen.

Gnade sei mit euch und Friede von Gott dem Vater und unserem Herrn Jesus Christus. Der Heilige Geist segne unser Reden und Hören. Amen.
Liebe Gemeinde!

„Ich bin ein Bibelentdecker; ja ich will es wissen; ein Bibelentdecker, dem Geheimnis auf der Spur; ein Bibelentdecker, will suchen und finden, ein Bibelentdecker auf Tour. Meine Tour führt mich durch zwei Testamente, da bleibt mir der Mund offen stehn; Kinder Gottes erben eine Menge, das lass ich mir nicht entgehn!“ – So heißt es im Refrain und in der dritten Strophe von Daniel Kallauchs Kinder-Bibel-Lied.

Mit dieser Strophe und dem Refrain ist die eine Seite zusammengefasst, die unseren Predigttext ausmacht: Christlicher Glaube ist etwas, das sich nicht einfach durch Nachdenken und Lernen erschließt. Christlicher Glaube ist eben ein Geheimnis, in das Menschen eingeführt werden und dem man sein Leben lang auf der Spur ist und bleibt. Die Beziehung jedes Christen zu Gott ist wie jede andere Beziehung nicht einfach naturwissenschaft-biologisch zu beschreiben; Beziehungen bleiben für Außenstehende letztlich nicht nachvollziehbar, eben ein Geheimnis.

Getragen ist dieses Geheimnis des Glaubens und der Beziehung zu Gott dadurch, dass wir durch unsere Taufe dazu berufen sind, Gottes Kinder zu sein. Die Anrede Gottes mit „Abba“ – also Papa und Vater ist für Paulus unendlich wichtig. Und Kinder sind Erben. Was hier so viel heißt wie: Gott als Vater ist Garant für die Zukunft. Er gibt uns das mit, was wir für unseren Weg in diese Zukunft brauchen.

Mit dem Stichwort von den ‚beiden Testamenten‘, durch die die Sänger des Liedes von Daniel Kallauch geführt werden, wird dann die zweite Seite in unserem Predigttext deutlich: Christlichen Glauben gibt es nicht im luftleeren Raum der Geschichte, er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern durch Jesus Christus für diejenigen möglich geworden, die vorher noch nicht zum Volk Gottes im ersten Testament gehört haben. Durch das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes wird Gott zu ihrem Vater. Das ist das Evangelium, die Frohe Botschaft, mit der Paulus und dann auch andere der Urgemeinde über die Grenzen des jüdischen Glaubens hinausgehen.

Wir – heute und hier in Möllbergen in der Kirche, in unserer Gemeinde – gehören mit den vielen Generationen unserer Vorfahren auch zu denjenigen, für die das gilt: Erst und nur durch Jesus Christus und die Taufe auf seinen Namen gehören wir dazu.

Es bleibt die Frage, was denn mit denen ist, die vor den Christen ‚Kinder Gottes’ waren – also das Volk Israel, das aus den Ahnen Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel hervorgegangen ist; das als jüdisches Volk zu Zeit Jesu gelebt hat und das bis heute im Staat Israel und über die ganze Welt verstreut lebt. Was ist mit denen? Sind sie keine Kinder Gottes mehr, weil es ja nun die Christen als neues Gottesvolk gibt? Der Gedanke kam ganz schnell und ganz früh im jungen Christentum auf. Und über all die Jahrhunderte hin hat es immer wieder neu christliche Theologen gegeben, die das auch vertreten haben. Aber zu Unrecht!

Denn schon Paulus – und er steht nicht umsonst mit so vielen Briefen im Neuen Testament – hat dieser Sicht ganz entschieden widersprochen. Paulus ist sich sicher: „Wie könnt ihr meinen, Gott habe sein Volk verstoßen? Das sei ferne, keineswegs! Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor erwählt hat.“ So schreibt er am Anfang des 11. Kapitels im Römerbrief. Und er will mit der Rede vom Geheimnis, das mit dem Volk Israel verbunden ist, den Menschen in der römischen Gemeinde erklären, dass die Christen keinen Grund haben, sich über Israel zu erheben. Denn ganz gleich, wie eine Momentaufnahme im Verhältnis von Gott und Israel aussehen mag: Für Paulus steht ein ganz großes Pluszeichen vor der Klammer, die den Weg Gottes mit Israel erzählt.

Und dieses Pluszeichen heißt: Gott ist treu! Was er einmal jemandem gegeben hat, das nimmt er nicht wieder von diesem weg. „Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.“ Paulus zählt dann am Anfang von Kapitel 9 sieben plus eine Gabe auf, die Gott seinem Volk geschenkt hat, als er dieses Volk in die Nachfolge berufen hat. Sieben plus eins – überfließende Vollkommenheit von Gottes Liebe.

Israel ist seit dem Weg aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit das Volk der Kindschaft. Es hat Anteil an der Herrlichkeit Gottes, die am Sinai die Stiftshütte erfüllt und die später die Hirten auf den Feldern von Bethlehem umstrahlen wird. Gott verbindet sich mit den Bundesschlüssen immer neu mit Israel. Er gibt ihnen seine Wegweisungen: das Gesetz als gute Lebensordnung – mittendrin die heilsame Einrichtung des Sabbat und das Gebot der Liebe zu Gott und den Mitmenschen. Israel ist das Volk des Gottesdienstes durch das Gebet mit Gott im Gespräch zu sein, sich der Zusagen Gottes durch Lesen und Auslegen der Schriften zu vergewissern, ihn im Singen zu loben und zu preisen. Israel ist das Volk der Verheißungen – nicht weil es so gut und vollkommen ist, sondern weil Gott dieses Volk liebt. Aus Israel kommen mit Abraham und Sarah, Ruth und David und vielen anderen die Väter und Mütter des Glaubens. Aus Israel schließlich kommt seiner irdischen Herkunft nach der Christus, denn Jesus ist Jude.

So beschreibt Paulus das Gottesvolk, sieht es achtfach ausgezeichnet: Gott hat Israel beschenkt und berufen zum Volk der Erwählung und seine Gaben und Berufungen können ihn nicht gereuen.

Den Gaben der Berufung entspricht das Ziel von Gottes Weg mit Israel: Ganz Israel wird gerettet werden. Paulus schreibt es ganz bestimmt. Daran gibt es nichts zu rütteln: Ganz Israel wird gerettet werden, denn Gott kommt zur Rettung seines Bundesvolkes. Damit wird deutlich: Gott ist es, der handelt, von dem die Rettung und Vollendung Israels abhängt – von Gott und seiner Barmherzigkeit: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam,
damit er sich aller erbarme.“

Zwischen dem Anfang mit den achtfachen Gaben und dem Ziel mit der Zusage des endgültigen Heils verläuft der Weg Israels. Der ist ein einziges Auf und Ab, mit vielen Irrungen und Wirrungen. Wir dürfen dabei aber nie vergessen, dass über diesen langen Weg mit allem, was auf diesem Weg unverständlich und negativ erscheint, Gottes Pluszeichen steht: Der ganze Weg Israels geschieht innerhalb der Klammer von Gottes segnendem Vorzeichen.

Zu diesem Unverständlichen auf dem Weg Israels gehört auch sein so poröses, sprödes Verhältnis zu Jesus von Nazareth, dem Christus: geboren aus dem Judentum wirkt Jesus in Israel – und sie bleiben Juden. Es geschieht einfach; für Paulus ist es keine bewusste Entscheidung der Menschen damals. Es geschieht. Paulus ist überzeugt: Nur deshalb kann die Botschaft von der Liebe Gottes zu den Menschen über Israel hinaus gehen. Ohne die zwischenzeitliche Ablehnung des Christus durch die Juden wäre die Jesusbewegung ein innerjüdischer Freundeskreis geblieben. Es musste so kommen, damit die Botschaft Jesu den Weg rund um die Welt findet. An dem Verhältnis Gottes zu Israel, an seiner Liebe zu ihnen ändert das nichts. Sie bleiben Geliebte Gottes, auch wenn sie den Glauben an Jesus als den Heiland der Welt nicht mit vollziehen. Das ist das große Geheimnis von Gottes Weg mit Israel.

Das, liebe Gemeinde, ist die wohl nicht überbietbare theologische Größe des Paulus. Dass er, der nichts anderes mehr kennt als Christus den Gekreuzigten, dass er, Paulus, das so stehen lassen kann: Israels eigene Gottesbeziehung.

Deshalb darf Paulus auch schreiben: die Römer sollen sich nicht selber für klug halten; damit sie ihr Urteil über Israel nicht auf eigene Gedankenkonstrukte bauen, denen die nötige Grundlage fehlt. Um es mit heutigen Worten zu sagen: Sie dürfen bei der Findung ihres Standpunktes nicht in der Filterblase des eigenen römischen Mikrokosmos bleiben. Denn da werden sie immer nur mit den gleichen Meinungen ihrer Freunde bestätigt.

Es ging den Römer nicht anders als uns heute: Wir dürfen uns nicht mit unserem so kleinen Horizont unsere eigene Meinung zurechtschustern, die dann an der Realität keinen Anhalt hat. Die Frage nach Gott und seinen Weisungen ist die entscheidende. Da hilft uns das Evangelium des Sonntags weiter, in dem Jesus die Weisungen Gottes ganz knapp zusammenfasst: »Das höchste Gebot ist das: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft“. Das andre ist dies: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Es ist kein anderes Gebot größer als diese.«

Das gilt dann auch heute, wenn wir als Christen, als Kirche unser Verhältnis zu Israel bedenken. Wir sind untrennbar geistlich mit Israel verbunden. Und das greift auch in die irdisch-weltpolitische Dimension mit ihren gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen hinein. Denn das Judentum heute besteht aus Menschen, die in dieser Welt leben. So ergibt sich eine gelebte Solidarität und Partnerschaft auch mit dem Staat Israel, bei der aber das kritische Wort auch seinen Platz haben muss. Vielleicht gerade in unserer heutigen Zeit, wo der Schmerz über den scheinbar nicht enden wollenden Konflikt Israels mit den Palästinensern so groß ist.

Eine Partnerschaft sucht miteinander Lebensperspektiven für alle Beteiligten. Im Sinn Jesu heißt das: den Nächsten immer mit im Blick zu haben – in dem Wissen, dass wir alle gleichermaßen auf Gottes Erbarmen angewiesen sind; in der Gewissheit, dass wir alle auf dieses Erbarmen vertrauen dürfen.
Amen.

Vielen Dank an Klaus Müller für die Meditation in den Göttinger Predigtmeditationen, aus der ich manches aufgenommen habe (Gött. Predigtmed. 74, S. 396-402).